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ROUNDUP/LBBW-Chefvolkswirt: 'Nur Wimpernschlag von Rezession entfernt'

28.06.2022
um 08:36 Uhr

FRANKFURT (dpa-AFX) - Ein vollständiger Lieferstopp von russischem Erdgas kann nach Einschätzung der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) die Erholung der deutschen Wirtschaft von der Corona-Krise schnell zum Erliegen bringen. "Wir sind nur noch einen Wimpernschlag von der Rezession entfernt", sagte LBBW-Chefvolkswirt Moritz Kraemer der Finanz-Nachrichtenagentur dpa-AFX. Neben dem drohenden Aus der russischen Gaslieferungen sorge auch die hohe Inflation für "schwere Gewitterwolken am Konjunkturhimmel".

"Da braut sich der perfekte Sturm zusammen", warnte der Ökonom. Kraemer verwies auf den Anstieg der Erzeugerpreise, der mittlerweile stärker sei als in der Nachkriegszeit und in der Ölpreiskrise in den 70er Jahren. Die Landesbank geht davon aus, dass die Inflationsrate in Deutschland in diesem Jahr bei 7,2 Prozent liegen dürfte, für die Eurozone wird eine noch etwas höhere Teuerungsrate von 7,5 Prozent erwartet.

Für das laufende Jahr rechnet die LBBW noch mit einem Wirtschaftswachstum in Deutschland von 1,5 Prozent. Selbst das Hauptszenario der LBBW ist nach Einschätzung von Kraemer keine richtige Erholung von der Corona-Krise. Und diese Entwicklung sei nur zu erwarten, wenn es keine Rationierung der Gasbelieferung gibt und darüber hinaus keine weiteren Schocks für die deutsche Wirtschaft.

Sollte es aber zu einem Engpass bei den Gaslieferungen kommen, und die Bundesregierung rationiert die Belieferung von Unternehmen, ist nach Einschätzung von Kraemer schnell mit einer schweren Rezession zu rechnen. Dann wäre ein Schrumpfen der Wirtschaftsleistung in einer Größenordnung von drei oder vier Prozent möglich. "Dann wird es bei der Zuteilung der Gasmengen ein Hauen und Stechen in den Branchen geben, und die Dominos fallen quer durch die Wirtschaft".

Im Kampf gegen die hohe Inflation dürfte die Europäische Zentralbank (EZB) den Einlagensatz bis Mitte 2023 auf zwei Prozent anheben, sagte Kraemer. Allerdings hinke die EZB bei der geldpolitischen Straffung der Inflationsentwicklung hinterher. "Das Problem für die EZB ist, dass die Inflation vor allem durch Lieferkettenprobleme sowie die hohen Energie- und Rohstoffpreise getrieben wird", sagte Kraemer.

Diese Angebotsfaktoren kann die Notenbank nicht unmittelbar beeinflussen und daher habe die Notenbank bei der Straffung der Geldpolitik zunächst abgewartet. "Negative Leitzinsen sind bei einer Inflation von über acht Prozent aber nicht mehr angemessen", sagte Kraemer. Sollte es jedoch zu einem Lieferstopp von Erdgas kommen, dann wird die EZB wohl auf Zinserhöhungen verzichten, um den Wirtschaftseinbruch zu begrenzen.

Eine ernste Lage zeige sich auch in den USA. In der größten Volkswirtschaft der Welt werde die Inflation vor allem durch die in der Corona-Krise aufgelegten riesigen Konjunkturpakete und den engen Arbeitsmarkt getrieben. "Hier muss die Notenbank weiter entschlossen vorgehen, um eine Verfestigung der Inflation zu vermeiden", sagte Kraemer. Allerdings könnten starke Zinserhöhungen die US-Wirtschaft in die Rezession treiben.

Nachdem die EZB zuletzt die Leitzinswende angekündigt hat, haben sich die Renditeabstände von südeuropäischen Staatsanleihen zu Bundesanleihen ausgeweitet. Notenbankpräsidentin Christine Lagarde hat daher ein neues Instrument in Aussicht gestellt, um eine "Fragmentierung" der Risikoaufschläge zu begrenzen. "Ein solches Vorgehen wäre komplett fehlgeleitet", kritisiert Kraemer. Die Notenbank habe auf diese Weise Panik geschürt, nachdem die Renditen italienischer Staatsanleihen über vier Prozent gestiegen seien. Dabei könne sich Italien weiter sehr günstig verschulden. "Länder wie Italien hätten es damit zudem nicht mehr nötig, mit unpopulären Maßnahmen ihren Haushalt zu konsolidieren und die Wirtschaft zu reformieren", sagte Kraemer./jsl/jkr/jha/