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OTS: Börsen-Zeitung / Gekapert, Kommentar zur EU-Taxonomie von Andreas Heitker

06.07.2022
um 20:49 Uhr

Gekapert, Kommentar zur EU-Taxonomie von Andreas Heitker
Frankfurt (ots) - Die Entscheidung der EU-Kommission, Investitionen in die Atom-
oder Gaswirtschaft einen grünen Stempel zu verpassen, um ihnen bessere
Finanzierungsoptionen zu geben, steht juristisch auf äußerst wackeligem Grund:
Denn zum einen hat die Behörde hierfür einen Delegierten Rechtsakt genutzt, der
eigentlich nur zur Regelung von technischen Details vorgesehen ist, aber
beileibe nicht, um hochpolitische gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu
lösen - wie in diesem Fall etwa der Umgang mit der Atomenergie. Zum anderen
scheinen die Atom- und Gaspläne an verschiedenen Stellen der zugrundeliegenden
Taxonomie-Verordnung zu widersprechen.

Man könnte auch sagen: Die EU-Kommission hat das noch junge
Klassifizierungssystem für nachhaltige Investments gekapert, um es als
Instrument der Energiepolitik zu nutzen. Neues Ziel: Versorgungssicherheit. Der
Delegierte Rechtsakt, mit dem die Behörde Atom und Gas als grün labelt, ist ein
ausbalancierter politischer Kompromiss zwischen den EU-Ländern. Solche
Kompromisse haben aber in einem System, das eigentlich ganz und gar auf objektiv
nachprüfbare wissenschaftliche Kriterien setzt, nichts verloren. Die Taxonomie
für umstrittene, interessengetriebene Entscheidungen zu öffnen, bedeutet, sie
zum Spielball der Politik zu machen. Und damit wird sie unglaubwürdig. Dies ist
auch der Grund, warum die Finanzwirtschaft selbst das grüne Label für Atom und
Gas eher ablehnt. Ob Investoren oder Fondsanbieter - beim Thema Nachhaltigkeit
sind klare Vorgaben gefragt.

Das EU-Parlament hat ein Veto jetzt doch relativ klar verpasst. Mehr als 70
Abgeordnete fehlten am Mittwoch, um die umstrittene Taxonomie-Entscheidung noch
zu stoppen. Dies ist durchaus überraschend, ist doch in den vergangenen vier
Monaten viel über die Gaswirtschaft und die europäischen Abhängigkeiten von
Gasimporten diskutiert worden. Ist es da wirklich angebracht, jetzt über
günstige Finanzierungsbedingungen für die Branche zu entscheiden?

Hinzu kommt: In den einzelnen nationalen Energiepolitiken können Atom- oder
Gaskraftwerke im Übergang ja durchaus noch eine Rolle spielen. Doch hierfür muss
es dann auch Finanzierungsoptionen jenseits von Nachhaltigkeitsfonds geben.
Fehlende Taxonomie-Konformität ist ja nicht mit einem Investitionsverbot
gleichzusetzen.

Es dürfte noch spannend werden, wie vor Gericht die Klagen entschieden werden.
Es dürfte aber ebenso spannend werden, wie die Investoren künftig mit der
Taxonomie umgehen.

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