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Siemens entschärft Streit um Turbinenwerke - Görlitz bleibt

08.05.2018
um 14:21 Uhr

- von Alexander Hübner

München (Reuters) - Die Kuh ist vom Eis: Nach monatelangen Gesprächen hat sich Siemens mit Betriebsräten und Gewerkschaftern auf einen Weg zum Abbau Tausender Stellen in der angeschlagenen Kraftwerks-Sparte geeinigt.

Der Industriekonzern verzichtet dabei auf die besonders umstrittene Schließung des Turbinen-Werks im ostsächsischen Görlitz. Auch in Leipzig und Erfurt soll es weitergehen - Kürzungen drohen aber weiterhin an allen Standorten. "Heute Nacht haben wir wichtige Meilensteine erreicht", sagte Personalchefin Janina Kugel am Dienstag in München. Wie viele Stellen in Deutschland letztlich wegfallen, soll nun bis Ende September ausverhandelt werden. Dabei ist immer noch strittig, inwieweit betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen sind.

Im Herbst hatte Siemens den Abbau von 6900 Arbeitsplätzen weltweit angekündigt, davon etwa die Hälfte in Deutschland. Der Konzern will mit den Kürzungen einen "großen dreistelligen Millionenbetrag" einsparen, wie Kugel erstmals bestätigte. Daran werde auch nicht gerüttelt. Die Abbaupläne hatten Tausende von Siemens-Beschäftigten auf die Straße getrieben, auch aus der Politik hagelte es Kritik am Kurs von Vorstandschef Joe Kaeser. Sie entzündete sich vor allem an Görlitz, das wegen seiner Lage am strukturschwachen Grenzgebiet zu Polen zum Symbol für eine angeblich verfehlte Standortpolitik wurde.

Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) zeigte sich nun erleichtert. "Das ist eine sehr gute Nachricht für die Siemensianer in Sachsen, für ihre Familien und für die gesamte Region." Für Kaeser stünden "nicht nur Kennzahlen, sondern auch die Menschen im Vordergrund". Görlitz soll sogar zur Zentrale des weltweiten Geschäfts mit Industrie-Dampfturbinen ausgebaut werden. Sie sind weniger stark von der Energiewende betroffen. Auch unter den gut 700 Mitarbeitern dort werde man aber nicht um Kürzungen herumkommen, sagte Kugel.

Kaeser reagiert mit den Plänen auf den Einbruch auf dem Markt für große Turbinen für Gas- und Dampfkraftwerke. Sie sind nach der Energiewende immer weniger gefragt. Siemens schätzt den Bedarf weltweit auf nur noch gut 100 Turbinen im Jahr, die drei Branchengrößen Siemens, GE und Mitsubishi Heavy könnten aber viermal so viel produzieren. Der Trend geht zur Stromerzeugung aus Wind und Sonne und zu Turbinen für kleinere, dezentrale Kraftwerke. Doch die habe Siemens nicht im Angebot, kritisieren Experten. Umsatz und Gewinne in der Sparte bröckeln spürbar. Konzernzahlen für das abgelaufene Geschäftsquartal will Siemens an diesem Mittwoch vorlegen. Erst am Montag war bekannt geworden, dass Siemens alle 30.000 Mitarbeiter in der Kraftwerkssparte nach Pfingsten für eine Woche in Zwangsurlaub schicken will, um die Kosten zu drücken.

PERSONALCHEFIN SUCHT "KREATIVE LÖSUNGEN"

Die IG Metall wollte in Sachen Kraftwerks-Sparte erst in konkrete Verhandlungen einsteigen, wenn alle Standorte in Deutschland erhalten blieben und betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen seien. Das sieht sie mit der Einigung als erfüllt an. IG-Metall-Vorstandsmitglied Jürgen Kerner, der auch im Siemens-Aufsichtsrat sitzt, sprach von einem "für beide Seiten akzeptablen Ergebnis". Ausschließen wollte Personalchefin Kugel Kündigungen aber nicht. Es wären die ersten im Konzern seit zehn Jahren. Man habe darüber gesprochen, was passieren müsse, wenn sich der Stellenabbau nicht über Abfindungen, Altersteilzeit oder andere freiwillige Lösungen bewerkstelligen lasse, sagte Kugel. "Wenn es kreative Lösungen gibt, dann gehen wir das mit."

Die Gespräche hatten sich nach Angaben von Teilnehmern bis nach Mitternacht hingezogen. Vorstandschef Kaeser habe sich zunächst geweigert, das gemeinsame Papier wie vom Betriebsrat gefordert mit zu unterschreiben, das seine Personalchefin mit den Arbeitnehmervertretern in monatelanger Arbeit ausgehandelt hatte. "Das war eine hochemotionale Situation", sagte ein Augenzeuge der Nachrichtenagentur Reuters. Dabei gilt Kugel als enge Vertraute Kaesers. "Bei einem Scheitern hätte Siemens vor einem großen Arbeitskampf gestanden", sagte ein Gewerkschafter.

Gesamtbetriebsratschefin Birgit Steinborn konstatierte, alle deutschen Standorte hätten nun eine Perspektive. "Siemens bleibt in den Regionen präsent", sagte IG-Metall-Funktionär Kerner. Für Leipzig prüft Siemens nun einen Verkauf. Ähnliche Pläne für Erfurt waren gescheitert, das Werk bleibt in kleinerem Maßstab erhalten. Den Standort Offenbach gibt Siemens auf, ein Teil der Ingenieure dort muss aber nicht nach Erlangen umziehen, sondern kann in der Rhein-Main-Region bleiben. Vom Abbau betroffen sind auch Duisburg, Mülheim/Ruhr und Berlin.

LEHREN FÜR DIE ZUKUNFT

Im Ausland, wo Siemens nicht auf die Arbeitnehmervertreter angewiesen ist, habe der Abbau längst begonnen, sagte Kugel. Bei künftigen Arbeitskämpfen will der Konzern Lehren aus der Debatte um Görlitz ziehen und schneller auf Umbrüche am Markt reagieren, wie Kugel versprach. Siemens sprach von einem "Zukunftspakt" mit den Arbeitnehmervertretern. Im Zuge dessen will der Konzern mit bis zu 100 Millionen Euro Maßnahmen fördern, mit denen sich die betroffenen Mitarbeiter für andere Jobs bei Siemens, aber auch außerhalb des Konzerns qualifizieren können. "Betriebsbedingte Kündigungen sind auch in Zukunft nicht das Mittel für Strukturwandel bei Siemens", sagte IG-Metall-Vorstand Kerner.

Siemens AG

WKN 723610 ISIN DE0007236101