Reuters

Brexit-Verhandlungen vor EU-Gipfel auf der Kippe

16.10.2018
um 17:16 Uhr

- von Peter Maushagen und Alastair Macdonald

Brüssel (Reuters) - Die Verhandlungen über einen geordneten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union stehen auf der Kippe.

Vor dem EU-Gipfel zum Brexit sagte Ratspräsident Donald Tusk, das Szenario eines harten Ausstiegs sei "wahrscheinlicher als jemals zuvor". Auf solch ein Szenario müsse man sich vorbereiten, betonte er am Dienstag ebenso wie zahlreiche Politiker aus EU-Staaten. Der von EU-Unterhändler Michel Barnier vorgestellte Fortschrittsbericht und die Parlamentsdebatte in Großbritannien am Montag gäben "keinen Grund zum Optimismus". Dies sollte die Union aber nicht daran hindern, weiter an einem Abkommen zu arbeiten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel bezeichnete nach Angaben aus Kreisen der Unionsfraktion die Brexitverhandlungen am Dienstag als "Quadratur des Kreises". Tusk sprach von einem "Gordischen Knoten". Leider sei derzeit kein Alexander in Sicht, sagte Tusk in Anspielung auf Alexander den Großen, der der Legende nach den unentwirrbaren Knoten mit seinem Schwert durchschlug. Für einen Durchbruch bräuchte man nicht nur guten Willen, sondern auch Fakten, sagte Tusk. Deshalb werde er die britische Premierministerin Theresa May am Mittwoch fragen, ob sie konkrete Vorschläge habe, um die derzeitige Blockade zu durchbrechen. Großbritannien will die EU in weniger als sechs Monaten verlassen.

VORBEREITUNGEN FÜR LETZTEN VERHANDLUNGSPOKER

Am Sonntag war eine Einigung zwischen der EU und dem Königreich auf einen Ausstiegsvertrag am Streit über die Vermeidung von Kontrollen an der Grenze zwischen Irland und Nordirland gescheitert. Einen Tag später warf May im britischen Parlament der EU vor, sie riskiere mit ihrer derzeitigen harten Haltung einen chaotischen Brexit.

Für den anstehenden Verhandlungspoker brachten beide Seiten am Dienstag ihre Truppen in Stellung. May beschwor nach den Worten ihres Sprechers die Einheit ihrer Ministerriege. Wenn das Kabinett geschlossen hinter ihr stehe, sehe sie eine Chance für ein Brexit-Abkommen. Der Sprecher betonte, dass ranghohe Minister May unterstützten. Es gebe auch keine Rücktrittsdrohungen. May habe zugleich auch deutlich gemacht, dass kein Abkommen besser sei als ein schlechtes Abkommen. Und ein schlechtes Abkommen sei eines, das zu einem Bruch im Vereinigten Königreich führe.

Ein deutscher Regierungsvertreter äußerte sich überzeugt, dass in der heißen Phase der Verhandlungen die geschlossene Front der EU gegenüber Großbritannien nicht bröckeln werde. Diese Einigkeit sei auch im britischen Interesse, weil sie für das Tempo der Verhandlungen wichtig sei.

NÄCHSTER VERSUCH: GIPFELTREFFEN

Die nächste Weichenstellung findet am Mittwoch und Donnerstag statt. Dann werden die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Staaten in Brüssel darüber befinden, ob der jetzige Stand der Gespräche zwischen London und Brüssel ausreicht, um wie geplant einen Sondergipfel im November anzusetzen. Falls wegen des Streits die Einigung erst im Dezember zustande komme, könnte es zeitlich sehr eng werden, das Vorhaben durch das britische Parlament zu bekommen, sagte ein EU-Vertreter.

Größter Streitpunkt ist die Frage, wie sich nach dem Brexit eine Grenze mit festen Kontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland verhindern lässt. Da es bislang keine Einigung darüber gibt, fordert die EU eine Absicherungsklausel (Backstop) im Austrittsvertrag, nach der Nordirland zunächst Teil der Zollunion mit der EU bliebe. Die Ausgestaltung der Lösung erweist sich als extrem schwierig, was Tusk zu seinem Vergleich mit einem "Gordischen Knoten" veranlasste.

Politiker mehrerer EU-Staaten verwiesen angesichts der verfahrenen Situation darauf, dass sie sich auf einen harten Brexit ohne vertragliche Einigung vorbereiteten. Die Bundesregierung sei auch auf alle Möglichkeiten, also auch einen ungeordneten Brexit, vorbereitet, sagte ein Regierungsvertreter in Berlin und fügte hinzu: "Ein Teil der Vorbereitungen ist schon unterwegs." Dazu gehörten etwa Gesetze, die mit dem Brexit in Kraft treten, und Maßnahmen auf Behördenebene wie etwa die Vorbereitung auf die Einstellung von Zöllnern.