Reuters

EZB & Co unter Reformdruck - "Rätsel niedrige Inflation"

20.03.2019
um 11:17 Uhr

- von Reinhard Becker und Julien Ponthus

Berlin/London (Reuters) - An der Schwelle zu einem neuen Jahrzehnt stehen die großen Notenbanken vor der Notwendigkeit, ihren Kompass neu zu justieren.

Die Währungshüter von Tokio bis Frankfurt haben mit billionenschweren Wertpapierkäufen und niedrigen Zinsen die verheerenden Folgen der Finanzkrise ausgebügelt. Doch nun wird auch innerhalb der Notenbanken der Ruf lauter, die Strategie auf den Prüfstand zu stellen: Denn Fed, EZB und Bank of Japan haben trotz der Geldschwemme ihre Inflationsziele nicht nachhaltig erreicht. Nachdem sie lange Zeit als Krisenfeuerwehr für das Finanzsystem fungierten, müssen die Währungshüter künftig ihr eigenes Haus ordnen und wetterfest machen.

"Bemerkenswert ist, dass die Notenbanken ein Riesen-Rad gedreht haben und nun trotz der Geldspritzen weiter vor dem Rätsel stehen, warum sich so wenig an der Inflationsfront tut", sagt Ökonom Tobias Basse von der NordLB. Die Vorschläge für eine Änderung der geldpolitischen Strategie reichen von einer behutsamen Anpassung bis hin zu einem radikalen Paradigmen-Wechsel. Letzteres propagieren die Anhänger der sogenannten Modern Monetary Theory (MMT) - allen voran die demokratische New Yorker Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez.

In Europa macht der als ein Kandidat für die Nachfolge von EZB-Chef Mario Draghi gehandelte finnische Notenbankpräsident Olli Rehn von sich reden: Er betont mit Blick auf die Erfahrung der vergangenen Jahre, das EZB-Inflationsziel von knapp zwei Prozent sei "nicht nachhaltig erreichbar". Daher müssten alle Prinzipien, Kern-Annahmen und Instrumente der Geldpolitik auf den Prüfstand. Zuletzt habe die EZB solch ein "Update" im Jahr 2003 gewagt, als sie das bis jetzt gültige Inflationsziel näher definierte. Mittlerweile sei das Umfeld aber völlig verändert - als Folge der Finanzkrise, der Alterung der Bevölkerung und niedrigerer Zinsen. Da auch Digitalisierung und Globalisierung die Preise dauerhaft drücken, raten manche Experten dazu, künftig niedrigere Teuerungsraten zu akzeptieren. Seit einiger Zeit peilen Zentralbanken weltweit eine Inflationsrate um die zwei Prozent als optimales Niveau für die Wirtschaft an. So soll ein ausreichender Sicherheitsabstand zu einer gefährlichen Abwärtsspirale bei den Preisen gewährleistet werden - einer Deflation.

Beidseits des Atlantiks wird aber mittlerweile über einen anderen Umgang mit dem Inflationsziel diskutiert: Dabei ist ein als "price-level targeting" bekanntes Modell ins Zentrum gerückt. Es würde den Notenbanken nach Ansicht ihrer Befürworter mehr geldpolitischen Spielraum bieten. Demnach könnten sie die Inflationsrate für einen längeren Zeitraum über dem angepeilten Idealwert halten, wenn diese zuvor geraume Zeit darunter geblieben ist. Ökonom Stefan Kipar von der BayernLB glaubt nicht, dass sich die EZB darauf einlassen wird: "Denn dann hätte sie womöglich beim Austarieren über Jahre mehr Druck, während sie derzeit jedes Jahr mehr oder weniger unbelastet angehen kann. Ökonom Franck Dixmier von Allianz Global Investors kann dem "price-level targeting" hingegen zumindest für die Fed Positives abgewinnen: "Eine derartige Strategieanpassung würde es ihr ermöglichen, flexibler und pragmatischer zu handeln. Und sie würde vermutlich weniger Überraschungen für die Märkte mit sich bringen."

FED BEREITET AUF BEHUTSAMEN WANDEL VOR

Die Anhänger der MMT um Ocasio-Cortez fordern hingegen einen radikalen Wandel: Diese Denkschule propagiert eine freigiebige Ausgabenpolitik. Steuern sind ein Mittel, die Inflation in Schach zu halten. Die Theorie geht davon aus, dass Staaten mit eigener Währung immer auf die Notenpresse zurückgreifen können, um Kredite zu bedienen. Gegner halten das für gefährlich, da dadurch Hyperinflation und wirtschaftlichem Niedergang Tür und Tor geöffnet würden. Der frühere US-Finanzminister Larry Summers spricht von "Voodoo"-Denken. EZB-Chefvolkswirt Peter Praet bezeichnet es als "gefährliches Vorhaben", dass Staatsschulden von Zentralbanken finanziert werden können. US-Notenbankchef Jerome Powell kann der Theorie ebenfalls nichts abgewinnen: "Ich denke nicht, dass die Vereinigten Staaten ernsthaft über ein MMT-Rahmenwerk nachdenken, mit dem die Haushaltspolitik den Konjunkturzyklus steuert."

Die Fed bereitet die Finanzwelt allerdings auf eine behutsame Reform ihrer Arbeitsweise vor. Laut Vizepräsident Richard Clarida könnte es zu einer "Verfeinerung" des bisherigen Rahmenwerks kommen. Dieses Jahr sollen landesweit Meinungen über Verbesserungen eingeholt werden. Dabei sollen sich nicht nur Volkswirte und Investoren, sondern auch Unternehmer, Arbeitnehmer und Vertreter der Zivilgesellschaft mit Vorschlägen einbringen.

In Japan bringt sich auch die Regierung mit Vorschlägen für den geldpolitischen Kurs ein - und trifft damit auf Widerstand der Notenbank. Die Teuerungsrate lag unter Ausschluss der schwankungsanfälligen Nahrungsmittelpreise im Januar bei nur 0,8 Prozent. Finanzminister Taro Aso warnte jüngst, "die Sache könne schiefgehen", falls sich die Zentralbank zu sehr auf ihr Zwei-Prozent-Ziel versteife. Notenbankchef Haruhiko Kuroda erwiderte, das Ziel sei wichtig, um das Mandat Preisstabilität zu erfüllen. Zugleich mahnte er zur Geduld, da es lange Zeit dauere, bis die Teuerung in Japan "nach einer langen Phase niedrigen Wachstums und einer Deflation" wieder anziehe. Doch die Notenbank jagd ihrem Inflationsziel bereits seit Jahren hinterher, ohne dass sie ihm nachhaltig näher kommen konnte.

NordLB-Ökonom Basse geht davon aus, dass die Regierung der Notenbank nun einen gesichtswahrenden Weg aufgezeigt hat, "in Trippelschritten von ihrem Inflationsziel wegzukommen". Doch würden die Währungshüter in Tokio ebenso wie Fed und EZB bei Reformen nichts überstürzen. Dabei liefen sie Gefahr, zu lange zu warten, während neue Krisen heraufzögen: "Ich fürchte, das Rätsel der relativ niedrigen Inflation wird erst gelöst, wenn es zu spät ist", warnt Experte Basse.