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SPD-Parteitag - Postenvermehrung verhindert Kampfabstimmung

06.12.2019
um 14:27 Uhr

- von Holger Hansen und Christian Krämer

Berlin (Reuters) - Die SPD ist auf ihrem Bundesparteitag sichtbar bemüht, jedes Zeichen einer Spaltung zwischen Gegnern und Befürwortern der großen Koalition zu vermeiden.

SPD-Spitzenpolitiker vereinbarten am Freitag eine Ausweitung der Stellvertreterzahl im Parteivorsitz auf fünf Vize. Damit wurde eine Kampfabstimmung zwischen Juso-Chef Kevin Kühnert und Arbeitsminister Hubertus Heil abgewendet. Ein Sieg Kühnerts wäre als weitere Niederlage für die Befürworter des Regierungsbündnisses mit der Union gewertet worden. "Das ist unser Vorschlag für ein starkes Team", bestätigte der künftige Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans die Absprache. Co-Parteichefin Saskia Esken sieht eine "realistische Chance" zur Fortsetzung der Koalition. Walter-Borjans forderte aber auch ein "Jahrzehnt der Investitionen" und stellte die Schwarze Null im Etat infrage, was die Union strikt ablehnt.

Die beiden Koalitionskritiker Esken und Walter-Borjans sollten am Nachmittag von den 600 Delegierten als Parteichefs gewählt werden. Mit den SPD-Bundesministern und der Fraktionsspitze haben sie sich auf einen Leitantrag verständigt, der keinen Ausstieg aus der Koalition vorsieht. Stattdessen soll mit der Union über einen höheren Mindestlohn, mehr Investitionen und stärkeren Klimaschutz verhandelt werden.

ESKEN: REALISTISCHE CHANCE FÜR KOALITION

"Mit diesem Leitantrag wird der Koalition eine realistische Chance auf Fortsetzung gegeben - nicht mehr und auch nicht weniger", sagte Esken vor den Delegierten. Der Antrag ermögliche, "in allem Respekt und auf anständigem Niveau" mit der Union über einen Fortbestand zu verhandeln. Sie sei skeptisch, darin habe sich ihre Meinung nicht geändert.

In ihrer Bewerbungsrede präsentierte sich Esken als Vertreterin der einfachen Leute, denen die SPD mit ihrem Bildungsversprechen den Aufstieg ermögliche: "Ich habe nicht vergessen, wo ich herkomme." Sie habe als Paketbotin und hinter der Theke gearbeitet und dann eine Ausbildung zur Software-Entwicklerin gemacht. Sie wolle "ihr ganzes Herzblut" daran legen, den "Niedriglohnsektor auszutrocknen". Sie wolle einen höheren Mindestlohn: "Zwölf Euro sind die Untergrenze, wir werden uns dafür einsetzen."

WALTER-BORJANS STELLT AUCH SCHULDENBREMSE INFRAGE

Walter-Borjans plädierte für ein Investitionsprogramm von jährlich 45 Milliarden Euro für zehn Jahre. "Wir fordern ein Jahrzehnt der öffentlichen Investitionen", für Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz. Dafür müssten notfalls neue Schulden unter Preisgabe des ausgeglichenen Haushalts aufgenommen werden. "Wenn die Schwarze Null einer besseren Zukunft für unsere Kinder im Wege steht, dann ist sie falsch. Dann muss sie weg", forderte er unter dem Beilfall der Delegierten. Dies gelte gegebenenfalls auch für die Schuldenbremse, die im Bund die Neuverschuldung auf 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzt.

Walter-Borjans ging auch auf Konfrontationskurs zu CDU-Chefin und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Er kritisierte das mittelfristige Ziel der Nato-Staaten, zwei Prozent ihrer Wirtschaftskraft für die Verteidigung auszugeben. "Ausrüstung ja, Aufrüstung nein", sagte Walter-Borjans. "Mein Maßstab ist nicht das Zwei-Prozent-Ziel." Das Ziel, für die Entwicklungshilfe 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auszugeben, sei viel wichtiger.

Die Bundestagsabgeordnete Esken und der frühere nordrhein-westfälische Finanzminister Walter-Borjans sollten am Nachmittag als erstes von den Mitgliedern bestimmtes Duo an die Spitze der Partei gewählt werden. Der Parteitag setzt damit das Ergebnis des Mitgliedervotums um. Beide hatten sich mit einem koalitionskritischen Kurs gegen Vizekanzler Olaf Scholz und seine Partnerin Klara Geywitz durchgesetzt.

"WIR GESTALTEN POLITIK"

Große Teile der Partei sind seither bemüht, die unterschiedlichen Lage wieder zusammenzuführen. Eine Kampfabstimmung um den Vizevorsitz sollte daher vermieden werden. Eine Niederlage von Arbeitsminister Heil bei einer Kandidatur hätte die Regierungspragmatiker in der Parteispitze weiter geschwächt. Mit der schleswig-holsteinischen SPD-Landeschefin Serpil Midyatli rückt auf einem Vizeposten neben Juso-Chef Kühnert aber auch eine weitere Koalitionsgegnerin in die engere Parteiführung auf. Weitere Parteivize sollen Geywitz und die Saarländerin Anke Rehlinger werden - vorausgesetzt, die Delegierten folgen der Absprache der Parteioberen und stimmen für fünf Parteivizeposten.

Die scheidende Übergangschefin Malu Dreyer unterstrich den Gestaltungswillen ihrer Partei und sorgte für ein Signal der Unterstützung an Scholz, der auf Parteitagen regelmäßig kritisch aufgenommen wird. Scholz erhielt anhaltenden Beifall und erhob sich kurz von seinem Platz, als Dreyer den Bundesministern und der Fraktion für deren Erfolge in der Koalition dankte. "Wir machen als Partei das, wozu wir verpflichtet sind, wir gestalten Politik", sagte Dreyer zur Eröffnung des Parteitages. "Neben der Erneuerung der Partei haben wir in den vergangenen Jahren ganz viel erreicht, um unser Land gerechter zu machen." Auch Generalsekretär Lars Klingbeil, der am Abend erneut für dieses Amt kandidierten wollte, forderte seine Partei auf, die innerparteilichen Streitigkeiten zu beenden: "Diese Partei muss für Geschlossenheit stehen."