Reuters

Neue SPD-Spitze gibt Koalition noch eine Chance

06.12.2019
um 15:37 Uhr

- von Holger Hansen und Christian Krämer

Berlin (Reuters) - Das neue SPD-Führungsduo will der Koalition mit der Union noch eine letzte Bewährungsprobe geben.

Mit dem Auftrag für Gespräche über Mindestlohn, Investitionen und Klimaschutz "wird der Koalition eine realistische Chance auf Fortsetzung gegeben - nicht mehr und auch nicht weniger", sagte die neue Vorsitzende Saskia Esken am Freitag in ihrer Bewerbungsrede auf dem Bundesparteitag der Sozialdemokraten in Berlin. Co-Parteichef Norbert Walter-Borjans forderte ein "Jahrzehnt der Investitionen" und stellte die Schwarze Null im Etat infrage, was die Union strikt ablehnt. Bei der Wahl schnitt Esken, die beim Mitgliedervotum die Koalition stärker kritisiert hatte, mit 75,9 Prozent deutlich schlechter ab. Walter-Borjans kam bei den über 600 Delegierten auf 89,2 Prozent Zustimmung.

Das Bemühen der SPD-Spitzenleute um größtmögliche Harmonie auf dem Parteitag bekam mit dem deutlichen Unterschied im Ergebnis einen Dämpfer. Esken hatte sich vor allem mit ihrer Kritik an dem in der Koalition Erreichten keine Freunde bei den Befürwortern der großen Koalition gemacht. Auch im Ringen um die Vermeidung einer Kampfabstimmung zwischen Juso-Chef Kevin Kühnert und Arbeitsminister Hubertus Heil zeigte sich Esken zunächst nach Angaben aus SPD-Kreisen wenig kompromissbereit. Erst auf Drängen großer SPD-Verbände stimmte Esken demnach einer höheren Zahl von Stellvertreterposten zu. Damit wurde eine Kampfabstimmung vermieden, die im Fall eines Sieges von Kühnert als Schlappe für die Regierungspragmatiker gewertet worden wäre.

ESKEN: REALISTISCHE CHANCE FÜR KOALITION

Esken und Walter-Borjans hatten sich mit einem koalitionskritischen Kurs in einer Befragung der knapp 426.000 Mitglieder gegen Vizekanzler Olaf Scholz und dessen Partnerin Klara Geywitz durchgesetzt. In der Bevölkerung ist Scholz dagegen laut einer Umfrage so beliebt wie nie: Im ARD-Deutschlandtrend führt er die Popularitätsskala zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) an. Auf dem Parteitag bekam Scholz anerkennenden Beifall, als die scheidende SPD-Übergangschefin Malu Dreyer ihn bei den Regierungserfolgen der SPD nannte.

Einen Ausstieg aus der Koalition strebt das neue Duo vorerst nicht an. Mit den SPD-Bundesministern und der Fraktionsspitze haben sie sich auf einen Leitantrag verständigt, der stattdessen Gespräche mit der Union über einen höheren Mindestlohn, mehr Investitionen und stärkeren Klimaschutz vorsieht. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer gratulierte der neuen SPD-Spitze umgehend nach den Abstimmungen: "Auf gute Zusammenarbeit. Es gibt viel zu tun. Dafür braucht es das klare Bekenntnis zum gemeinsamen Auftrag. Wir sind dazu bereit", schrieb sie auf Twitter.

Esken sagte vor den Delegierten: "Mit diesem Leitantrag wird der Koalition eine realistische Chance auf Fortsetzung gegeben - nicht mehr und auch nicht weniger." Der Antrag ermögliche, "in allem Respekt und auf anständigem Niveau" mit der Union über einen Fortbestand zu verhandeln. Sie sei skeptisch, darin habe sich ihre Meinung nicht geändert. In ihrer Bewerbungsrede präsentierte sich Esken als Vertreterin der einfachen Leute, denen die SPD mit ihrem Bildungsversprechen den Aufstieg ermögliche: "Ich habe nicht vergessen, wo ich herkomme." Sie wolle einen höheren Mindestlohn: "Zwölf Euro sind die Untergrenze, wir werden uns dafür einsetzen."

Walter-Borjans plädierte für ein Investitionsprogramm von jährlich 45 Milliarden Euro für zehn Jahre. "Wir fordern ein Jahrzehnt der öffentlichen Investitionen", für Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz. Dafür müssten notfalls neue Schulden unter Preisgabe des ausgeglichenen Haushalts aufgenommen werden. "Wenn die Schwarze Null einer besseren Zukunft für unsere Kinder im Wege steht, dann ist sie falsch. Dann muss sie weg", forderte er unter Beifall. Dies gelte gegebenenfalls auch für die Schuldenbremse, die im Bund die Neuverschuldung auf 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzt. Scholz hält bisher an der Schwarzen Null fest.

Walter-Borjans ging auch auf Konfrontationskurs zu CDU-Chefin und Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer. Er kritisierte das mittelfristige Ziel der Nato-Staaten, zwei Prozent ihrer Wirtschaftskraft für die Verteidigung auszugeben.

POSTENVERMEHRUNG VERMEIDET KAMPFABSTIMMUNG

Mit einer Ausweitung der Stellvertreterzahl von drei auf fünf sollte am Abend eine Kampfabstimmung vermieden werden, die sich zwischen Kühnert und Heil abgezeichnet hatte. Mit der schleswig-holsteinischen SPD-Landeschefin Serpil Midyatli rückt auf einem Vizeposten neben Kühnert aber auch eine weitere Koalitionsgegnerin in die engere Parteiführung auf. Weitere Parteivize sollten Geywitz und die Saarländerin Anke Rehlinger werden - vorausgesetzt, die Delegierten folgen der Absprache.

Dreyer unterstrich den Gestaltungswillen ihrer Partei. "Wir machen als Partei das, wozu wir verpflichtet sind, wir gestalten Politik", sagte sie zur Eröffnung des Parteitages. "Neben der Erneuerung der Partei haben wir in den vergangenen Jahren ganz viel erreicht, um unser Land gerechter zu machen." Kühnert traut dem neuen Führungsduo zu, die Verhandlungen mit der Union anders zu führen: "Dann schauen wir mal, ob die Union sich bewegt."