Reuters

Entsetzen über Tat von Hanau - Rechtsextremer Hintergrund

20.02.2020
um 14:22 Uhr

- von Anika Ross und Christian Götz

Hanau/Berlin (Reuters) - Beim Angriff eines offenbar rechtsextremistisch motivierten Mannes im hessischen Hanau sind neun Menschen getötet worden.

Der mutmaßliche Täter eröffnete in zwei Shisha-Bars das Feuer und wurde später in einem Wohnhaus tot neben der Leiche seiner Mutter aufgefunden. Wie Hessens Innenminister Peter Beuth am Donnerstag mitteilte, handelt es sich bei dem Verdächtigen um einen 43-jährigen Deutschen. Als Sportschütze soll er legal Waffen besessen haben. Er hinterließ eine Videobotschaft und ein Bekennerschreiben. Die Bundesanwaltschaft zog die Ermittlungen an sich, sie geht von rechtsextremistischen Motiven aus. Damit setzt sich eine Serie derartiger Angriffe in Deutschland fort. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte, Rassismus und Hass seien ein Gift, das in der Gesellschaft existiere. Die Tat löste weithin Entsetzen und Fassungslosigkeit aus.

Erste Erkenntnisse deuteten auf ein fremdenfeindliches Tatmotiv hin, sagte Hessens Innenminister Beuth. Darauf lasse etwa eine Homepage schließen, aus der sich ein mutmaßlicher rechter Hintergrund des Mannes ergebe. Die Ermittlungen liefen. Die Polizei geht nicht davon aus, dass es weitere Täter gibt.

"Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift, und dieses Gift existiert in unserer Gesellschaft", sagte Merkel. "Und es ist Schuld an schon viel zu vielen Verbrechen, von den Untaten des NSU, über den Mord an Walter Lübcke bis zu den Morden von Halle." Von 2000 bis 2007 ermordete die Neonazi-Gruppe NSU neun Männer türkischer und griechischer Herkunft sowie eine Polizistin. Anfang Juni wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Mann umgebracht, der als rechtsextrem gilt. Im Oktober griff ein 27-Jähriger in Halle die dortige Synagoge und einen nahe gelegenen Döner-Imibss an und tötete zwei Menschen. Der Täter selbst bestätigte antisemitische und rechtsextremistische Motive.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier spricht in Hanau von einem "tiefen Einschnitt". Zu den Menschen vor allem auch mit Migrationshintergrund sagt er: "Wir sind an eurer Seite, das gilt für jeden in unserem Land, ganz egal, wo er herkommt und wie er aussieht." Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky spricht von "den bittersten, traurigsten Stunden, die diese Stadt in Friedenszeiten jemals erlebt hat". Den in der Stadt traditionell gefeierten Fasching sagte Kaminsky ab. Am frühen Abend war eine Mahnwache geplant, zu der auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erwartet wurde.

SCHOLZ: 75 JAHRE NACH NS-DIKTATUR WIEDER RECHTER TERROR

Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz forderte ein konsequentes Vorgehen gegen rechten Terror. "Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit sind nun Bürger von Rechtsterroristen ermordet worden", twitterte der SPD-Politiker. "Wir dürfen nicht zur Tagesordnung übergehen." Die Sicherheitsbehörden müssten mit aller Konsequenz den Kampf gegen rechten Terror führen. "Politisch kann niemand leugnen, dass es 75 Jahre nach der NS-Diktatur wieder rechten Terror gibt."

Erst vergangene Woche hatte die Bundesanwaltschaft Haftbefehle gegen zwölf mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer einer rechtsterroristischen Vereinigung erwirkt. Einige der Männer sollen Anschläge auf Politiker, Asylsuchende und Muslime geplant haben. Damit hätten sie bürgerkriegsähnliche Zustände erreichen und die Staats- und Gesellschaftsordnung erschüttern wollen. Laut dem hessischen Innenminister gab es vor der Tat von Hanau keine Vorerkenntnisse zu dem Verdächtigen.

Medienberichten zufolge sollen mehrere Opfer kurdischer Abstammung sein. Die Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland prangerte Versäumnisse des Staates an. "Wütend sind wir, weil die politischen Verantwortlichen in diesem Land sich rechten Netzwerken und Rechtsterrorismus nicht entschieden entgegenstellen", so der Dachverband. Die Rhetorik der AfD und deren Verharmlosung durch Medien und Politiklandschaft "bereiten den Nährboden für den rechten Terror in Deutschland".

Auch der Grünen-Politiker Cem Özdemir warnte davor, die Gefahr von Rechts zu verharmlosen. "Nach NSU, Lübcke und Halle reden manche immer noch von Einzeltätern. Damit muss endlich Schluss sein", sagte Özdemir den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Linken-Chefin Katja Kipping sprach "von rassistischem Terror". Dies führe erneut vor Augen, wie schnell aus Worten Taten werden könnten, sagte sie dem Nachrichtenportal t-online.de. FDP-Chef Christian Lindner rief alle Demokraten auf, ein Zeichen gegen Hass, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu setzen: "Deswegen bin ich heute um 18.00 Uhr am Brandenburger Tor", twitterte er mit Blick auf eine am Abend geplante Kundgebung.

AFD: "TAT EINES IRREN" - INSTRUMENTALISIERUNG IST ZYNISCH

"Das ist weder rechter noch linker Terror, das ist die wahnhafte Tat eines Irren", twitterte der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen. "Jede Form politischer Instrumentalisierung dieser schrecklichen Tat ist ein zynischer Fehlgriff." Vize-Parteichefin Beatrix von Storch schrieb: "Dieser psychotische Amokläufer glaubte laut Manifest, 'Geheimorganisationen' könnten 'Gedanken lesen'" und im Traum mit ihm sprechen. "Diese Wahnsinnstat erfüllt uns mit Wut und Abscheu." In seiner Videobotschaft ruft der Verdächtige in Englisch "alle Amerikaner" zum Kampf gegen dunkle Mächte im Stil von Verschwörungstheorien auf. Ein Hinweis auf Pläne für eine eigene Gewalttat in Deutschland ist in dem Video nicht enthalten.

Am Tatort war die Straße Heumarkt im Herzen Hanaus am Donnerstagmorgen weiträumig gesperrt. Die Straße liegt in unmittelbarer Nähe des historischen Marktplatzes mit dem Rathaus und Brüder-Grimm-Denkmal. Die Shisha-Bar "Midnight" wurde von Streifenpolizisten bewacht, Beamte in weißen Overalls von der Spurensicherung waren hier im Einsatz wie auch in der benachbarten Bar "La Votre". Vor der Bar ist auf dem Bürgersteig eine kreisrunde Markierung zu erkennen. "Das ist unglaublich", sagte Chokri Kaita, der in einem Fischgeschäft nahe des Tatortes arbeitet. Er habe jetzt Angst, dass so etwas noch mal passiere. "Ich dachte, das wäre eine saubere Stadt, und sicher", sagte der 44-Jährige.