Reuters

Idlib ruft Nato auf den Plan - Türkei will Flüchtlinge in die EU lassen

28.02.2020
um 13:12 Uhr

Brüssel/Ankara (Reuters) - Nach der Tötung von 33 türkischen Soldaten droht eine dramatische Verschärfung des Syrien-Konflikts mit unabsehbaren Konsequenzen auch für Europa.

Der Nato-Rat kam am Freitag in Brüssel auf Antrag der Türkei zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Gleichzeitig kündigte ein türkischer Regierungsvertreter die Öffnung der Grenzen zur EU für Flüchtlinge aus der umkämpften syrischen Rebellen-Provinz Idlib an. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell warnte davor, "in eine große, offene internationale militärische Konfrontation zu rutschen". Die EU werde alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz ihrer Sicherheitsinteressen prüfen. Russland, das anders als die Türkei in Syrien die dortige Regierung unterstützt, beschloss die Verlegung von zwei mit Marschflugkörpern ausgestatteten Kriegsschiffen in die Gewässer vor der syrischen Küste.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte nach der Sitzung des Nato-Rats, die Bündnispartner stünden solidarisch zur Türkei. "Wir rufen Russland und das syrische Regime dazu auf, die rücksichtslosen Luftangriffe zu stoppen." Auch müssten sie das Völkerrecht achten. Die Türkei hatte die Sitzung auf Basis von Artikel 4 des Nordatlantikvertrags https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de beantragt, der Beratungen vorsieht, wenn ein Nato-Mitglied die eigene Sicherheit bedroht sieht. Der eigentliche Bündnisfall wird in Artikel 5 geregelt. Die Türkei forderte die internationale Gemeinschaft dazu auf, eine Flugverbotszone im Bürgerkriegsland Syrien einzurichten.

Nach türkischen Angaben wurden die 33 Soldaten am Donnerstag bei einem Luftangriff syrischer Regierungstruppen in Idlib getötet. Seit einem Angriff kurdischer PKK-Rebellen im Jahr 1993 sind bei einem einzigen Zwischenfall nie mehr so viele türkische Soldaten umgekommen. Insgesamt starben damit im Februar in Idlib bereits 54 türkische Militärangehörige. Die Regierung in Ankara hat insgesamt Tausende Soldaten in die an die Türkei grenzende Region entsandt und unterstützt dort Rebellengruppen. Russland ist dagegen der wichtigste militärische Verbündete von Präsident Baschar al-Assad, der seit fast zehn Jahren versucht, einen Aufstand gegen seine Herrschaft niederzuschlagen. Idlib ist die letzte verbliebene größere Rebellenhochburg. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat damit gedroht, syrische Soldaten zurückzuschlagen, sollten sie nicht aus dem Bereich türkischer Beobachtungsposten in der Region abziehen.

Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte laut einem Bericht der Nachrichtenagentur RIA, die getöteten türkischen Soldaten hätten nicht in dem angegriffenen Gebiet sein sollen. Ankara habe Moskau nicht vorab über ihre Position informiert trotz regelmäßig genutzter Kommunikationskanäle. Die syrischen Truppen hätten versucht, eine Rebellenoffensive abzuwehren. Russische Kampfjets seien an dem Angriff nicht beteiligt gewesen seien. Moskau habe alles versucht, um den Beschuss zu stoppen, als es von der Präsenz türkischer Truppen erfahren habe. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar widersprach. Die Soldaten seien angegriffen worden, obwohl man sich mit russischen Vertretern am Boden abgestimmt habe, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu den Minister. Zudem seien die Angriffe trotz einer Warnung nach den ersten Einschlägen fortgesetzt worden. Auch Krankenwagen seien getroffen worden. Aus Vergeltung seien 309 syrische Soldaten getötet worden.

MIGRANTEN AUF DEM WEG ZU EU-GRENZEN

Die Gewalt in Idlib hat inzwischen ein solches Ausmaß angenommen, dass die Vereinten Nationen vor einem "Blutbad" warnen. Die Bundesregierung bemüht sich mit Frankreich um eine Entspannung. Doch auf den Vorschlag eines Viertreffens mit Erdogan sei Russland bislang nicht eingegangen, sagte Regierungssprecher Steffen Siebert in Berlin. Das Angebot bestehe noch. Der Kreml teilte mit, Erdogan und Russlands Präsident Wladimir Putin hätten telefonisch vereinbart, dass versucht werden solle, ein Spitzentreffen zu organisieren.

Die syrischen Einheiten treiben mit Unterstützung der russischen Luftwaffe ihre Offensive voran. Seit der Rückeroberung von Gebietsteilen im Dezember haben etwa eine Millionen Zivilisten ihre Städte und Dörfer aus Angst vor den Angriffen verlassen. Angesichts der jetzigen Eskalation rechnet die Türkei, die bereits 3,7 Millionen Menschen aus dem Bürgerkriegsland aufgenommen hat, mit weiteren Flüchtlingen. Ankara hat jedoch wiederholt erklärt, nicht noch mehr Menschen Zuflucht bieten zu können. Einem Regierungsvertreters zufolge sind daher die Küstenwache und Grenzposten angewiesen worden, ab sofort Flüchtlinge, die in die EU gelangen wollten, nicht mehr aufzuhalten. Reuters-Reporter beobachteten, wie sich mehrere Gruppen auf den Weg zu den türkisch-griechischen und türkisch-bulgarischen Grenzen machten. Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis teilte mit, er habe die Lage mit Kanzlerin Angela Merkel telefonisch besprochen. Details wurden nicht genannt.

Ein 2016 geschlossener Pakt zwischen der EU und der Türkei sieht eigentlich vor, dass Migranten, die die Ägäis überqueren, zurück in die Türkei geschickt werden. Im Gegenzug zahlt die EU der Türkei Hilfsgelder in Milliardenhöhe. Ein Sprecher der EU-Kommission sagte, die türkische Seite habe sich bezüglich einer Änderung ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik bisher nicht offiziell geäußert. Die EU erwarte, dass Ankara den Pakt von 2016 einhalte.