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Langer Weg bis Sanktionen - Viele offene Fragen im Fall Nawalny

09.09.2020
um 07:12 Uhr

- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - Innerhalb weniger Tage hat der Anschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny die ohnehin belasteten deutsch-russischen Beziehungen in eine tiefe Krise gestürzt.

Derzeit scheint völlig offen, in welche Richtung sie sich entwickeln - auch weil etliche Fragen ungeklärt sind. Nach Recherchen in Regierungskreisen hier eine Übersicht über den jetzigen Stand.

WIE GEHT ES NAWALNY - WAS BEDEUTET DAS AUFWACHEN?

Am Montag gab die Charité bekannt, dass Nawalny aus dem künstlichen Koma aufgewacht sei und Reaktionen zeige. Sollte er ansprechbar sein, könnte dies die Debatte verändern - und die Frage aufwerfen, ob Nawalny überhaupt nach Russland zurückkehren oder etwa Asyl beantragen will. Die Bundesregierung wollte bisher keine Antwort auf diese Frage geben. Es gilt ohnehin als wahrscheinlich, dass Nawalny noch tagelang nicht wirklich ansprechbar sein wird, die Charité hat auch Spätschäden durch die schwere Vergiftung nicht ausgeschlossen. Als unklar gilt, ob russische Behörden etwa auf eine Befragung Nawalnys dringen werden.

WER UNTERSUCHT IM FALL NAWLNY WAS?

Die deutsche und die russische Regierung haben sich im Fall Nawalny bisher gegenseitig kritisiert. Da Nawalny als russischer Staatsbürger wahrscheinlich in Sibirien vergiftet wurde, fordert die Bundesregierung von Moskau eine lückenlose Aufklärung. Russland wiederum hat ein Rechtshilfeersuchen in Deutschland gestellt, das die Bundesregierung an die Justizbehörden in Berlin weitergeleitet hat. Seither hüllen sich alle in Schweigen - aber das Auswärtige Amt betont, dass die russischen Behörden den Giftanschlag selbst und sofort aufklären könnten, weil es in Deutschland gar nichts zu ermitteln gebe. Deutschland sei schließlich erst zwei Tage nach der Tat überhaupt ins Spiel gekommen, weil man sich bereit erklärt hatte, den erkrankten Nawalny auf Wunsch von dessen Unterstützern in der Berliner Charité zu behandeln.

WAS WIRD AUS DEM NOWITSCHOK-VORWURF?

Kanzlerin Angela Merkel hat sich ungewöhnlich weit aus der Deckung gewagt, als sie nach einer Analyse in einem Bundeswehrlabor bekannt gab, dass es "zweifelsfrei" feststehe, dass Nawalny mit einem chemischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden sei. Die russische Regierung fordert dafür Belege, der Arzt in Omsk widerspricht und betont, er selbst habe keine Nowitschok-Spuren gefunden. Die Bundesregierung hat die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen in Den Haag eingeschaltet, der auch Russland angehört. Offen blieb bisher, ob die Probe noch von einem weiteren von der OPCW zertifizierten Labor untersucht wird, um das deutsche Testergebnis zu überprüfen. Unklar ist bisher auch, in welcher Form die OPCW aktiv werden kann und soll. In Berlin wird lediglich betont, dass außer Russland niemand den Befund des deutschen Labors anzweifelt, das ebenfalls OPCW-zertifiziert ist.

WANN ENTSCHEIDEN BERLIN UND EU ÜBER SANKTIONEN?

Regierungssprecher Steffen Seibert verweist darauf, dass man nun auf eine Reaktion Russlands zur Aufklärung des Anschlages warte. Wann diese Wartezeit abgelaufen sein wird, will die Regierung nicht sagen. Abhängig von der russischen Antwort wollen EU und Deutschland erst danach über Maßnahmen beraten. Dass Deutschland im Alleingang Sanktionen beschließt, gilt als eher unwahrscheinlich. Denn die Bundesregierung bemüht sich sei Tagen, den Eindruck zu zerstreuen, dass es sich um einen bilateralen Konflikt handele.

WAS KÖNNTEN SANKTIONEN SEIN?

Eine relativ niedrigschwellige Sanktion ist die Ausweisung von russischen Diplomaten. Denkbar wären auch Einreiseverbote und Kontosperrungen für Personen, denen man eine direkte Mitverantwortung für den Anschlag gibt - ähnlich wie die EU dies derzeit im Falle von Belarus vorbereitet. Schärfere Schritte wären neue Wirtschaftssanktionen, wie sie die EU nach der Annexion der Krim und wegen der russischen Unterstützung für die Separatisten in der Ostukraine nach 2014 und bis heute verhängt hat. Es ist unklar, ob alle EU-Staaten dazu bereit wären - zumal immer mit Gegensanktionen zu rechnen ist.

KÖNNTE NORD STREAM 2 BETROFFEN SEIN?

Die Bundesregierung schließt seit dem Wochenende nicht mehr aus, dass es auch Konsequenzen für die im Bau befindliche Nord Stream 2-Gasipeline geben könnte. Kanzlerin Angela Merkel hatte eine Verbindung des Falls Nawalny mit Nord Stream 2 vergangene Woche noch abgelehnt. Eigentlich haben mehrere Mitglieder der Regierung und auch etliche Ministerpräsidenten deutlich gemacht, dass sie einen Baustopp der Pipeline ablehnen. Aber die Sanktions-Entscheidung wird am Ende nicht alleine in Deutschland, sondern gemeinsam in der EU fallen. Und dort gibt es etwa in Osteuropa etliche Regierungen, die seit langem gegen das Projekt Nord Stream 2 sind. In Regierungskreisen wird gewarnt, dass es bei einem Stopp der von europäischen und deutschen Stellen genehmigten Pipeline hohe Schadensersatzansprüche der betroffenen Firmen geben könnte.

OMV AG

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