Reuters

Ringen um freie Intensivbetten - Wo liegt die Corona-Belastungsgrenze?

22.10.2020
um 07:27 Uhr

- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - Auf den ersten Blick sieht die Corona-Lage in Deutschland trotz steigender Zahlen noch relativ entspannt aus: 908 Corona-Patienten werden derzeit intensivbehandelt, 421 davon künstlich beatmet, wie das bundesweite Divi-Krankenhausregister für Mittwoch ausweist.

Die Zahl der freien Intensivbetten beträgt 8539 - dazu kommt noch einmal eine Notfallreserve von 12.544 Betten. Ärzte-Lobbyisten etwa von der kassenärztlichen Vereinigung werfen deshalb Bundes- und Landesregierungen eine Dramatisierung der Lage vor, weil immer nur auf die Zahl der Neuinfektionen geschaut werde. Doch in den Kliniken und von Virologen wie Christian Drosten wird aus zwei Gründen dennoch Alarm geschlagen.

Zum einen kritisieren Virologen, aber auch Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn, dass in öffentlichen Debatten oft nur der Ist-Zustand gesehen werde. Zwar stieg die Zahl der Neuinfektionen in den vergangenen Tagen tatsächlich sehr viel schneller an als die Zahl der Intensiv-Patienten und Toten. Aber die Entwicklung in vielen Nachbarländern wie Tschechien, Belgien oder Frankreich zeigt, wie schnell die Überlastung der Gesundheitssysteme erreicht werden kann, wenn die Zahlen der Neuinfektionen explodieren. Tschechien hat Bayern bereits offiziell um Hilfe gebeten. Und mittlerweile, das zeigen die Zahlen des Robert-Koch-Instituts, steigt nach der Infizierung vor allem von Jüngeren jetzt auch wieder die Zahl der älteren Patienten, was die Todeszahlen zeitversetzt in die Höhe schnellen lassen könnte.

Zum anderen gibt es einen Faktor, der im Divi-Register nicht direkt abzulesen ist. "Wir haben genug Material und Beamtungsgeräte bereitgestellt", sagt Gernot Marx, Sprecher des Arbeitskreises Intensivmedizin der "Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin" (DGAI). "Aber das größere Problem liegt beim Personal. Jeden Herbst und Winter steigt die Zahl der Erkrankten beim Klinikpersonal ohnehin. Jetzt kommen aber die Positiv-Infizierten und die strenge Corona-Quarantäne bei den Mitarbeitern hinzu." Der ärztliche Leiter des Frankfurter Uniklinikums, Jürgen Graf, hatte schon vor einigen Tagen darauf verwiesen, dass sich an seiner Klinik die Zahl der infizierten Mitarbeiter innerhalb von nur zwei Wochen verdoppelt habe.

"Wohlgemerkt: Das Personal steckt sich in der Regeln nicht bei der Arbeit in den Krankenhäusern mit ihren hohen Hygienestandards an, sondern im Privatleben", betont Marx, der Direktor für operative Intensivmedizin an der Uniklinik Aachen ist. Das Personal sei "der absolute Knackpunkt" bei der Versorgung der Corona-Patienten, meint auch der Vorstand Krankenversorgung der Berliner Charité, Ulrich Frei. Er kritisiert, dass dieser Personalmangel auf Intensivstationen aber schon vor Corona bestanden habe und sich nun nur verstärke. Thomas van den Hooven, Pflegedirektor des Universitätsklinikums Münster, stößt ins gleiche Horn und beziffert die fehlende Zahl beim Personal im "Handelsblatt" auf 4000 bis 17.000.

"VIRTUELLES KRANKENHAUS"

Allerdings wiegelt das Bundesgesundheitsministerium zumindest an dieser Stelle ab. Die Divi-Zahlen erfassten sehr wohl alle Betten, die auch versorgt werden könnten - das beziehe das vorhandene Personal mit ein. Das erklärt, warum Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Bayern, Brandenburg, Saarland und Hamburg EU-Partnerstaaten bereits wieder angeboten haben, schwererkrankte Covid-Patienten aufzunehmen. Denn selbst wenn die Kurve der Patientenzahl in Deutschland stetig weiter steigen sollte, sehen sie noch freie Kapazitäten. Denn die lassen sich relativ gut berechnen: Die Behandlungszeit eines Corona-Patienten auf der Intensivstation wird im Schnitt mit rund zwei Wochen berechnet. Bis dahin, so die Annahme, sollte die Lage in Deutschland nicht außer Kontrolle geraten.

Zudem sorgen zwei deutsche Besonderheiten dafür, dass das Gesundheitssystem zumindest flexibler auf die Corona-Herausforderung reagieren kann. Zum einen ermöglicht das Divi-Register, Patienten aus besonders betroffenen Gebieten in andere Landesteile mit geringer Auslastung zu verlegen. Zum anderen gibt es etwa in Nordrhein-Westfalen ein Netz des "virtuellen Krankenhauses", das vielen Krankenhäuser und Ärzte vernetzt.

Marx, der in Aachen wegen des Corona-Ausbruches in Heinsberg sehr früh Erfahrungen mit Patienten sammeln konnte, hat mittlerweile 17 Kliniken und mehr als 100 Praxen in seinem Verbund vereint. Über Telemedizin kann er den neuesten Stand der universitären Corona-Forschung so an Krankenhäuser und Ärzte weitergegeben, die bisher selbst wenig Erfahrung mit der Behandlung von Corona-Patienten hatten. Diese gezielte Verbreitung von Wissen in die Fläche könnte ein Grund sein, wieso die Corona-Totenzahl in Deutschland trotz steigender Neuinfektionen deutlich unter dem Niveau in vielen anderen EU-Staaten liegt.