Reuters

Nach Biden-Sieg brechen deutsch-französische Differenzen neu auf

17.11.2020
um 13:32 Uhr

- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - Wenige Tage nach dem Sieg von Joe Biden bei der US-Präsidentschaftswahl reißen zwischen Deutschland und Frankreich alte Gräben wieder auf: Als Reaktion auf Bidens Sieg gab Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ein Interview, in dem er sich sowohl in der Sicherheits- als auch Finanzpolitik gegen die Bundesregierung aufstellt.

Bei seiner Forderung nach mehr europäischer Souveränität in der Verteidigungspolitik griff er Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in dem Interview mit "Le Grand Continent" namentlich an. Denn die CDU-Chefin betont die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen und der USA für die Sicherheit Europas und Deutschlands. Zudem sprach Macron von einer "Transferunion" durch die nun im Rahmen der Corona-Hilfen genehmigte Schuldenaufnahme der EU-Kommission, die aus dem Euro erst eine vollwertige Währung mache.

"Das Interview zeigt die Sorge in Paris, dass man in Deutschland nach dem Biden-Sieg sagen könnte, es sei wieder alles gut in den transatlantischen Beziehungen", analysiert Jana Puglierin, Europa-Expertin des European Council on Foreign Relations (ECFR), den Vorstoß. Auch Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire hatte nach dem Wahlsieg Bidens betont, dass die EU nun ihren Weg fortsetzen müsse, sich unabhängiger von den USA und China zu machen. Schon frühere französische Regierungen hatten kritisiert, dass Berlin sich zu sehr an Washington orientiere und damit das Tempo einer eigenen EU-Verteidigungspolitik bremse.

Auch in der Bundesregierung ahnt man, dass der eigentlich begrüßte Biden-Sieg neue-alte Konfliktlinien zwischen Paris und Berlin aufbrechen wird. "US-Präsident Donald Trump hatte zumindest den Vorteil, dass die Ablehnung seiner unilateralen Politik uns geeint hat", sagte ein Regierungsvertreter in Berlin. "Mit Biden gibt es aber wieder mehr transatlantische Kooperationsmöglichkeiten - und das löst neue Debatten in Europa aus." In Deutschland gebe es anders als in Frankreich eine echte Bereitschaft und geradezu Begeisterung, mit Washington wieder mehr zu unternehmen, meint auch ECFR-Expertin Puglierin. Sie hält die Pariser Sorgen dennoch für unbegründet. Blauäugig sei in Berlin niemand. Regierungssprecher Steffen Seibert bemühte sich am Montag ebenfalls, die Wogen zu glätten. Man wolle eben beides: Ein selbstbewusster auftretendes Europa und eine enge Partnerschaft mit den USA in der Nato. In der Technologiepolitik etwa teilen Merkel und Macron zudem den Wunsch nach einer größeren europäischen Unabhängigkeit sowohl von China als auch von den USA.

CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak verwies darauf, dass für die angestrebte "strategische Autonomie" in der Verteidigung sofort Investitionen von 100 Milliarden Euro nötig wären, um den US-Schutz zu ersetzen. Dafür gebe es in Deutschland aber keine Bereitschaft. Ohnehin gilt in der Bundesregierung der amerikanische Atom-Schutzschirm als nicht ersetzbar durch die französischen Atomwaffen. "Es gibt zudem nicht nur eine Verunsicherung durch Trump, wie verlässlich die USA künftig sein werden. In Berlin sieht man auch, dass es in Frankreich Kräfte gibt, auf die sich Deutschland trotz aller EU-Zusammenarbeit möglicherweise nicht verlassen könnte", fügt Puglierin mit Blick auf die französischen Präsidentschaftswahlen 2022 und einen möglichen Sieg der extremen und EU-feindlichen Rechten hinzu.

DIFFERENZEN AUCH BEI HANDEL UND BEIM EURO

Dabei geht es ohnehin längst nicht nur um die Sicherheitspolitik. Wenn Macron nun lobt, dass die EU sich endlich zu einer "Transferunion" durchgerungen habe, dann widerspricht dies ausdrücklich den Äußerungen etwa von Kanzlerin Angela Merkel, die betont hatte, dass die der EU-Kommission nun erlaubte Schuldenaufnahme eine Ausnahme sein müsse. Das Wort "Transferunion" ist schon aus rechtlichen Gründen ein rotes Tuch in Deutschland und für die Union. Aber Macron sieht eine gemeinsame Schuldenaufnahme wie schon frühere französische Präsidenten ganz anders: "Das entspricht einer Transferunion, die auf einer gemeinsamen Unterschrift, einer gemeinsamen Verschuldung beruht. Dies ist also ein wirklich entscheidender Punkt, um die Souveränität des Euro aufzubauen und ihn zu einer echten Währung zu machen, die nicht oder deutlich weniger von anderen abhängt, und um innerhalb unseres Bündnisses eine Haushaltssouveränität zu schaffen", sagte er in dem Interview.

Auch in einem weiteren Feld könnte eine deutsch-französische Debatte wiederbelebt werden, die unter Trump fast schon vergessen schien - die Handelspolitik. CDU-Generalsekretär Ziemiak bezeichnete es am Montag als "Fehler", dass man den Anlauf für ein transatlantische Handelsabkommen (TTIP) abgebrochen habe. Mit Blick auf das von China mit 14 pazifisch-asiatischen Staaten am Sonntag unterzeichnete Freihandelsabkommen mahnte er, dass ein neuer Anlauf zwischen der EU und den USA nötig sei. Man brauche mehr, nicht weniger transatlantische Zusammenarbeit.

Macron sieht ein EU-Freihandelsabkommen mit den USA aber insgesamt kritischer als Merkel, die ebenfalls unbedingt ein umfassendes EU-Abkommen mit den USA möchte. Mit Biden dürfte diese Debatte wiederkommen. Schon bei den jüngsten EU-Sanktionen gegen den US-Flugzeughersteller Boeing zeigte sich dies: Außenminister Heiko Maas betonte stellvertretend für die Regierung, dass man doch eigentlich einen Abbau der Strafzölle wolle.