Reuters

Ukraine räumt schwere Verluste bei Raketenangriff ein

26.05.2022
um 15:47 Uhr

(Neu: Schiffsraketen, Kampfgeschehen)

- von Pavel Polityuk und Natalia Zinets

Kiew/Mariupol (Reuters) - Die Ukraine hat die bislang schwersten eigenen Verluste bei einem russischen Angriff eingeräumt.

"Heute haben wir die Arbeiten in Desna abgeschlossen. In Desna, unter den Trümmern, lagen 87 Opfer", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videoansprache am Montag auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Bislang hatte die Regierung in Kiew von acht Toten bei einem Raketenangriff auf eine Kaserne in Desna am 17. Mai gesprochen. Zum Wochenbeginn heulten wieder in vielen ukrainischen Städten Warnsirenen. Die russischen Streitkräfte setzten ihre Offensive im Osten und Süden fort. Vor allem im Donbass und dem Gebiet der Stadt Mykolajiw im Süden tobten zum Teil heftige Kämpfe.

Selenskyj forderte erneut schärfere Sanktionen gegen Russland. Das Maximum sei noch nicht erreicht, es sei ein Öl-Embargo nötig. Mit Russland sollte kein Handel betrieben werden. Die Welt müsse einen Präzedenzfall schaffen. "Die Geschichte ist an einem Wendepunkt", sagte Selenskyj. "Das ist wirklich der Moment, in dem entschieden wird, ob rohe Gewalt die Welt regieren wird."

Der Stabschef des Präsidialamts, Andrij Jermak, bekräftigte auf Twitter, die Ukraine werde keine territorialen Zugeständnisse machen. Russland ist einem Medienbericht zufolge zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit. Voraussetzung sei, dass die Regierung in Kiew eine "konstruktive Position" einnehme, berichtete die Nachrichtenagentur Ria unter Berufung auf den stellvertretenden Außenminister Russlands, Andrej Rudenko. In der Vergangenheit waren dies für die Ukraine unannehmbare Forderungen.

Selenskyj erklärte, die Lage im Donbass sei extrem schwierig. Sein Berater Mychailo Podoljak schloss aber eine Kampfpause aus, wie sie von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi ins Gespräch gebracht worden war. Damit würde sich die Ukraine nur selbst schaden, da Russland nach einer Waffenruhe nur umso härter zuschlagen würde, sagte der Berater des ukrainischen Präsidenten: "Sie starten dann eine neue Offensive, noch blutiger und größer angelegt."

Die heftigsten Gefechte lieferten sich beide Seiten im Gebiet der Zwillingsstädte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk nordwestlich von Luhansk im Osten der Ukraine, wie ein Berater des Innenministeriums sagte. Die russischen Truppen versuchen bereits seit Mitte April, die Front zu schließen und die ukrainischen Verbände einzukesseln.

STREIT UM GETREIDELIEFERUNGEN

Russland warf dem Westen vor, mit seinen Sanktionen eine weltweite Nahrungsmittelkrise hervorgerufen zu haben. "Russland war immer eher ein verlässlicher Exporteur von Getreide", sagte der Sprecher das Präsidialamts in Moskau, Dmitri Peskow. "Wir sind nicht die Ursache des Problems." Nach Darstellung der Ukraine und des Westens blockieren russische Streitkräfte alle ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer, darunter auch den größten Hafen in Odessa. Millionen Tonnen Getreide liegen demnach dort brach und können nicht exportiert werden. Hauptabnehmer sind normalerweise Länder im Nahen Osten und Nordafrika, wo sich vereinzelt bereits eine Verschärfung der ohnehin bestehenden Hungersnot abzeichnet.

Dänemark wird US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zufolge die Ukraine mit Anti-Schiffs-Raketen des Typs Harpoon sowie entsprechenden Abschussvorrichtungen versorgen. Die Nachrichtenagentur Reuters erfuhr aus US-Regierungskreisen, dass das ukrainische Militär mit dem fortgeschrittenen Waffensystem in die Lage versetzt werden soll, die russischen Blockaden der Häfen zu brechen.

Im ersten Kriegsverbrecherprozess in der Ukraine in Zusammenhang mit der russischen Invasion wurde unterdessen ein russischer Soldat zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, einen unbewaffneten ukrainischen Zivilisten in den Kopf geschossen zu haben. Der 21-Jährige Panzerkommandant hatte sich schuldig bekannt, den 62-jährigen Mann getötet zu haben.

(Bericht aus verschiedenen Reuters-Büros, bearbeitet von Alexander Ratz und Hans Busemann, redigiert von Scot W. Stevenson. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)