Reuters

Alleingang, "Zweigang", EU-Abstimmung? - Die Crux von Moria

17.09.2020
um 08:52 Uhr

- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - Nein, die Aufnahme von 1553 Flüchtlingen sei kein deutscher Alleingang in der EU, betont Angela Merkel in der Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Genau genommen handele es sich um einen "Zweigang", fügte sie nach Teilnehmerangaben mit Blick auf entsprechende Wünsche der griechischen Regierung hinzu. Denn zuvor merkte Unions-Fraktionsvize Thorsten Frei (CDU) kritisch an, dass man bei allen humanitären Überlegungen nun nicht einmal mehr Frankreich an der Seite Deutschlands habe. Andere Abgeordneten kritisierten einen deutschen Alleingang in Europa, zu dem man sich durch Forderungen der SPD und die öffentliche Meinung habe treiben lassen.

Die Debatte zeigt das doppelte Dilemma, in dem gerade der Unionsteil der Regierung in der Debatte um das abgebrannte griechische Flüchtlingslager Moria steckt: Zum einen verweist Merkel auf die deutsche Verantwortung als derzeitige EU-Ratspräsidentschaft und die souveräne Entscheidung des griechischen EU-Partners, wie viele Flüchtlinge überhaupt aufgenommen werden sollten. Zum anderen steht sie innenpolitisch unter Druck von allen Seiten. Nach Angaben aus Regierungskreisen hatten Innenminister Horst Seehofer (CSU) und Merkel deswegen ihre Entscheidung aus der vergangenen Woche korrigiert, zunächst mit anderen zehn europäischen Ländern nur 400 unbegleitete Minderjährigen aufzunehmen.

Denn Druck kam nicht nur von der Opposition und von SPD-Chefin Saskia Esken, die am Wochenende die Aufnahme einer höheren vierstelligen Zahl gefordert hatte. Auch mehrere CDU-Politiker wollten angesichts der Bilder von der griechischen Insel Lesbos mehr Flüchtlinge nach Deutschland holen, viele Kommunen und Länder erklärten sich ebenfalls dazu bereit. Und auch CSU-Chef Markus Söder drängte plötzlich und brachte Innenminister Seehofer zum Kurswechsel. "Die Angst ist groß, dass man beim Flüchtlingsthema wieder neue Fronten etwa zu den Grünen aufbaut", heißt es dazu in Koalitionskreisen auch mit Blick auf die Bundestagswahl 2021.

Gleichzeitig aber warnen CDU-Politiker, dass die AfD von diesem Schwenk profitieren könne. "2015 darf sich nicht wiederholen", betonten in den internen Debatte eigentlich alle. So warnte der CDU-Bundestagsabgeordnete Manfred Grund in der Fraktionsdebatte am Dienstag, dass er Auftrieb für die AfD vor allem in den ostdeutschen Ländern wie Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen fürchte. "Jeder Sonderwege, den Berlin beschließt, ist Wasser auf den Mühlen der AfD", sagte er nach Teilnehmerangaben. Gerade ostdeutschen Wählern sei kaum zu vermitteln, warum sich andere und enge EU-Partner anders als die Bundesregierung so zurückhielten. 2020 sei nicht 2015, versucht Seehofer die Gemüter zu beruhigen.[nL8N2GD3CN]

FORSA-CHEF SIEHT KEINEN AFD-AUFSCHWUNG

Allerdings wird die Gefahr eines erneuten Aufschwungs der AfD, die am Sonntag bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen sehr schwach abschnitt, nicht von allen gesehen. "Die Lage ist überhaupt nicht mit 2015/16 vergleichbar", sagt etwa der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, zu Reuters. Zum einen gehe es heute um ganz andere Größenordnungen bei den Flüchtlingen als 2015, als die EU-Kommission etwa 160.000 Menschen auf die EU-Staaten verteilen wollte und Deutschland insgesamt rund 800.000 Menschen aufnahm. "Zum anderen hat die AfD damals Auftrieb vor allem durch den Streit zwischen CDU gegen CSU bekommen. Der fehlt heute völlig", betont Güllner. "Ich sehe deshalb nicht, dass die AfD von der gegenwärtigen Debatte profitieren könnte."

Auch der Politologe Gero Neugebauer erwartet nicht, dass die Folgen von Moria die Gewichte in der deutschen Parteienlandschaft verschieben. "Die AfD kann nicht profitieren, weil das Flüchtlingsthema bei den meisten Wählern nicht das dominierende Thema ist - und sich die AfD in einem Kampf befindet, selbst zusammenzubleiben." Wenn Flüchtlinge auf kommunaler Ebene wirklich ein Thema wären, hätte die AfD schon in NRW punkten müssen - gerade weil einige Kommunen die freiwillige Aufnahme von mehr Flüchtlingen angeboten hatten.

Dennoch sieht Neugebauer die Kanzlerin und die SPD unter Druck: Merkel habe es mit sehr unterschiedlichen Meinungen in CDU und CSU zu tun - und ringe verzweifelt, aber erfolglos um eine einheitliche Haltung in Europa. "Und die SPD verfolgt das Prinzip der kommunikativen Kakophonie." Am Freitag habe sie noch eine europäische Lösung eingefordert, dann aber die Aufnahme einer hohen vierstelligen Zahl verlangt - um dann am Dienstag mit 1553 Personen zufrieden zu sein, sagt Neugebauer.

Das liegt auch daran, dass Deutschland in der EU keine Verbündeten mehr hat, die das Flüchtlingsthema ähnlich wichtig nehmen. Letztlich drängen auch in Brüssel derzeit nur ein "Zweigang" - eine Deutsche und ein Grieche - auf eine gemeinsame EU-Asylpolitik: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas.