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Warum das Thema "Migranten und Corona" für die Politik heikel ist

21.10.2020
um 14:37 Uhr

- von Andreas Rinke

Berlin (Reuters) - Im Zusammenhang mit den steigenden Corona-Neuinfektionen sind in den vergangenen Tagen immer wieder Großhochzeiten, Reiserückkehrer vom Balkan oder der Türkei sowie feiernde Jugendliche aus migrantischen Milieus genannt worden.

Das suggeriert, dass Einwanderer ein besonderes Problem in der Krise darstellen könnten. Doch die Bundesregierung verfolgt einen anderen Ansatz: Migranten gehören in dieser Krise vor allem zu den Hauptleidtragenden, betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag. Oft arbeiten Migranten in Branchen, die vom Wirtschaftseinbruch in der Corona-Krise besonders betroffen sind. Und Integrations- und Sprachkurse können wegen der Pandemie nur reduziert angeboten werden.

In aller Stille luden Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn und Integrationsministern Annette Widmann-Mauz vergangene Woche zu einer Corona-Schalte mit Migrationsverbänden ein. Denn für die Politik ist das Thema "Migranten und Corona" heikel. Schon in der ersten Welle hatten AfD-Fraktionschefin Alice Weidel und andere etwa über die Gefahr durch einreisende Flüchtlinge getwittert. "Niemand will jetzt ein Art Förderprogramm für die AfD starten, indem wir das Thema hochziehen", heißt es in Unionskreisen. Aber zugleich sei klar, dass das Thema adressiert werden müsse. Den In vielen deutschen Großstädten weisen vor allem Stadtteile mit hohen Migrationsanteil auch hohe Infektionszahlen aus.

Allerdings sehen Experten darin weniger einen Hinweis darauf, dass sich Migranten fahrlässiger verhalten, sondern dass sie besonders betroffen sind. In der Bundesregierung wird etwa darauf verwiesen, dass Migranten in vielen Berufen arbeiteten, in denen es hohe Infektionszahlen gibt - vom Handel, über die Logistik, Gastronomie bis zu fleischverarbeitenden Betrieben und der Landwirtschaft als Saisonarbeiter. Dazu kämen oft beengte Wohnverhältnisse. Das deckt sich mit OECD-Einschätzungen. "In fast allen OECD-Ländern, für die Daten vorliegen, gibt es eine systematische Überrepräsentanz von Migranten bei den Covid-19-Fällen und bei der Sterblichkeit", sagte der OECD-Experte Thomas Liebig zu Reuters. Auch er nennt beengten Wohnraum als einen Grund sowie die häufigere Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. "Dadurch wird die Verbreitung des Virus erhöht." Das Infektionsrisiko für Migranten sei in Kanada, Dänemark, Norwegen, Portugal und Schweden doppelt so hoch wie für im Inland Geborene.

REGELVERSTÖSSE UNABHÄNGIG VON ETHNIEN

Dass Menschen mit Migrationshintergrund durch ein besonders fahrlässiges Verhalten zur Corona-Verbreitung beitrügen, sieht die Polizei nicht. "Es kommt darauf an, um welche Regeln es geht", sagte Jörg Radek, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), zu Reuters. Als vor einigen Wochen eine illegale Feier auf dem Opernplatz in Frankfurt aufgelöst wurde, habe man es tatsächlich mit vielen Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu tun gehabt. Aber bei vielen anderen Feiern sei dies gerade nicht der Fall gewesen. "Und Verstöße gegen die Maskenpflicht sind vollkommen unabhängig von Ethnien", betont Radek. Die Sprecherin der Integrations-Staatsministerin verweist darauf, dass Infektionsherde bei "Chören, Baptistengemeinden über Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Unternehmen, Partys bis hin zu großen Hochzeiten" entdeckt worden seien.

Dennoch hat die Politik das Gefühl, aktiv werden zu müssen -schon weil sich die Corona-Pandemie nicht ohne die Bürger mit Migrationshintergrund eindämmen lässt. "Die Verweigerung einer Debatte über das Thema ist ohnehin gefährlich. Es darf nicht der Eindruck entstehen, die Politik kümmert sich nicht", sagt etwa der Politologe Gero Neugebauer zu Reuters. Gerade das könnte der AfD in die Hände spielen. Also plädiert er für eine offensive Debatte, bei der viele Vorurteile abgeräumt werden könnten. "Migrantengruppen haben ein Interesse daran, dass Regeln eingehalten werden und nicht der Eindruck einer Sonderbehandlung entsteht", sagt er. Dazu müssen sie die Regeln aber kennen. "Der Staat muss dafür sorgen, dass die Informationen über die Regeln auch alle Gruppen der Gesellschaft erreichen." OECD-Experte Liebig sieht dabei als besonders problematische Gruppe die Neuzuwanderer: Ihnen fehlten Sprachkenntnisse, Netzwerke oder auch der Hausarzt, um auf dem laufenden zu bleiben.

Das sei schon die Lehre aus dem Treffen mit Migrantenverbänden bei der ersten Welle im April gewesen, heißt es bei der Integrationsbeauftragten. Mittlerweile gebe es Informationsmaterial in 20 Sprachen, es werde aktiv über Verbände und soziale Medien verbreitet. Die Corona-Warn-App existiert nach Angaben der Bundesregierung nun in sechs Sprachen - Deutsch, Englisch, Rumänisch, Bulgarisch, Polnisch und Türkisch. Russische und französische Versionen seien in Arbeit. Und vergangenen Samstag legte die Kanzlerin nach: Der Podcast mit mahnenden Worten an die Bürger, sich an die Corona-Auflagen zu halten, ist diesmal auch mit arabischen und türkischen Untertiteln abrufbar.