Reuters

Ukraine schließt Waffenruhe derzeit aus

23.05.2022
um 15:27 Uhr

(Weitgehend neu, mit Selenskyj in Davos)

- von Pavel Polityuk und Natalia Zinets

Kiew/Mariupol (Reuters) - Die Ukraine schließt einen sofortigen Waffenstillstand mit Russland aus und ist nicht dazu bereit, der Regierung in Moskau territoriale Zugeständnisse zu machen.

"Der Krieg muss mit der vollständigen Wiederherstellung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine enden", schrieb der Stabschef des Präsidialamts, Andrij Jermak, auf Twitter. Am Montag heulten wieder in der gesamten Ukraine Warnsirenen, die russischen Streitkräfte setzten ihre Offensive im Osten und Süden des Landes fort. Vor allem im Donbass und dem Gebiet der Stadt Mykolajiw im Süden tobten zum Teil heftige Kämpfe.

Bei einem russischen Angriff auf eine Kaserne im Norden des Landes musste die Ukraine die bislang schwersten Verluste hinnehmen. Nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj wurden bei dem Raketenebeschuss in Desna in der Region Tschernihiw vergangene Woche 87 Menschen getötet. Selenskyj mahnte in einer virtuellen Rede vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos zugleich schärfere Sanktionen gegen Russland an. Das Maximum sei noch nicht erreicht. Es sei ein Öl-Embargo nötig. Mit Russland sollte kein Handel betrieben werden. Die Welt müsse einen Präzedenzfall schaffen. "Die Geschichte ist an einem Wendepunkt", sagte Selenskyj. "Das ist wirklich der Moment, in dem entschieden wird, ob rohe Gewalt die Welt regieren wird."

Russland wirft dem Westen vor, mit seinen Sanktionen eine weltweite Nahrungsmittelkrise hervorgerufen zu haben. "Russland war immer eher ein verlässlicher Exporteur von Getreide", sagte der Sprecher das Präsidialamts in Moskau, Dmitri Peskow. "Wir sind nicht die Ursache des Problems." Nach Darstellung der Ukraine und des Westens blockieren russische Streitkräfte alle ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer, darunter auch den größten Hafen in Odessa. Millionen Tonnen Getreide liegen demnach dort brach und können nicht exportiert werden. Hauptabnehmer sind normalerweise Länder im Nahen Osten und Nordafrika, wo sich vereinzelt bereits eine Verschärfung der ohnehin bestehenden Hungersnot abzeichnet.

RUSSLAND SIGNALISIERT GESPRÄCHSBEREITSCHAFT

Die Frage, unter welchen Bedingungen der Krieg beendet werden könnte, rückt zunehmend ins Zentrum der Diskussion. Bundeskanzler Olaf Scholz hatte zuletzt nur betont: "Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen, die Ukraine muss bestehen." Eine Regierungssprecherin in Berlin sagte am Montag, es sei allein die Entscheidung der Ukraine, unter welchen Bedingungen das Land Frieden schließen wolle. Russland ist einem Medienbericht zufolge zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit. Voraussetzung sei, dass Kiew eine "konstruktive Position" einnehme, berichtete die Agentur Ria unter Berufung auf den stellvertretenden Außenminister Russlands, Andrej Rudenko.

Er wolle zudem nicht ausschließen, dass über den Austausch der Gefangenen aus dem Stahlwerk Asowstal in Mariupol gesprochen werde, wurde Rudeno weiter zitiert. Russland hatte am Freitag erklärt, die letzten ukrainischen Kämpfer aus Asowstal hätten sich ergeben. Die Ukraine hat diese Entwicklung bislang nicht bestätigt. Die Ukraine strebt einen Gefangenenaustausch mit Russland an. In Moskau wurden dagegen Stimmen laut, die gefangengenommenen ukrainischen Soldaten vor Gericht zu stellen. Russische Soldaten durchkämmten unterdessen das Gelände des Stahlwerks nach Minen und Sprengfallen, die sowohl ukrainische als auch russische Truppen platziert haben sollen.

Selenskyj hat eingeräumt, dass die Lage in der umkämpften Ostregion Donbass "extrem schwierig" sei. Sein Berater Mychailo Podoljak schloss zugleich aber eine unmittelbare Kampfpause aus, wie sie von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi ins Gespräch gebracht worden war. Damit würde sich die Ukraine nur selbst schaden, da Russland nach einer Waffenruhe nur umso härter zuschlagen würde, sagte der Berater des ukrainischen Präsidenten: "Sie starten dann eine neue Offensive, noch blutiger und größer angelegt." Kiew werde auch keine Konzessionen machen, die auf Gebietsabtretungen hinausliefen, fügte er hinzu.

TAKTIK DER "VERBRANNTEN ERDE"

Die heftigsten Gefechte lieferten sich beide Seiten zuletzt im Gebiet der Zwillingsstädte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk nordwestlich von Luhansk im Osten der Ukraine, wie ein Berater des Innenministeriums sagte. Die russischen Truppen versuchen bereits seit Mitte April, die Reihen hier zu schließen und die ukrainischen Verbände einzukesseln. Serhij Gajdaj, der Gouverneur von Luhansk, sagte im lokalen Fernsehen, die russischen Truppen verfolgten eine Taktik der "verbrannten Erde". Sie wollten Sjewjerodonezk "auslöschen".

Im ersten Kriegsverbrecherprozess in der Ukraine in Zusammenhang mit der russischen Invasion wurde unterdessen ein russischer Soldat zu lebenslanger Haft verurteilt. Ihm wurde vorgeworfen, einen unbewaffneten ukrainischen Zivilisten in den Kopf geschossen zu haben. Der 21-Jährige Panzerkommandant hatte sich schuldig bekannt, den 62-jährigen Mann getötet zu haben.