Reuters

Neue Dynamik in Nahost - "Alle drängen in die Mitte"

19.05.2023
um 13:32 Uhr

(Reuters) - Die Einladung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zum Gipfel der Arabischen Liga in Saudi-Arabien ist Teil einer Entwicklung in Nahen Osten: Bisherige Rivalen wollen - vom Westen kritisch beäugt - ihre jahrelangen Konflikte und Rivalitäten beiseiteschieben.

Das Vorgehen hat sich beschleunigt, seit der Iran und Saudi-Arabien, die führenden schiitischen und sunnitischen arabischen Mächte der Region, im März unter Vermittlung Chinas die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen vereinbart haben. Was treibt die Länder an?

NEUE DYNAMIK

Obwohl das iranische Atomprogramm weiter für Spannungen sorgt, die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern zunimmt und im Sudan ein neuer Konflikt ausgebrochen ist, hat die Diplomatie Rivalitäten in der Region entschärft. Ein Grund dafür ist der Wunsch nach einer Ankurbelung der Wirtschaft. Allerdings spielen auch geopolitische Veränderungen eine Rolle, da die Verbündeten der USA das langfristige Engagement Washingtons in der Region trotz dessen Beteuerungen infrage stellen - in einer Zeit, in der etwa China nach mehr Einfluss strebt.

"Die Araber, die Iraner und die Türken versuchen, eine Grauzone zu schaffen, in der sie alle koexistieren können, und nicht eine Region mit Schwarz und Weiß", sagte Vali Nasr von der Johns Hopkins School of Advanced International Studies in Washington. Einige US-Verbündete seien zu dem Schluss gekommen, dass ein stark polarisierter Naher Osten ihren Interessen nicht dienlich sei. "Es gibt eine Dynamik in der Region, die alle in die Mitte drängt."

IRAN UND SAUDI-ARABIEN

Saudi-Arabien und der Iran haben im Rahmen eines von China vermittelten Abkommens vereinbart, ihre Beziehungen wieder aufzunehmen. Das Abkommen könnte Spannungen und Konflikte wie den Jemen-Krieg entschärfen, der auch als Stellvertreter-Krieg zwischen den beiden Erzrivalen gilt. Es unterstreicht den Wunsch Saudi-Arabiens nach Sicherheit, da sich Kronprinz Mohammed bin Salman auf die Expansion und Diversifizierung der Wirtschaft seines Landes konzentriert. Saudi-Arabien hat sich zudem China zugewandt, das Bündnis mit den USA ist angespannt.

Der Iran, dessen Wirtschaft unter US-Sanktionen leidet, versucht, die westlichen Bemühungen um seine Isolierung zu unterlaufen. China ist sowohl für Saudi-Arabien als auch für den Iran ein wichtiger Handelspartner.

VEREINIGTE ARABISCHE EMERITA UND IRAN

Auch die Emirate treiben wirtschaftliche Interessen um. Sie haben sich 2019 um eine Annäherung an Teheran bemüht und später die diplomatischen Beziehungen erweitert. Der Iran hat zum ersten Mal seit 2016 einen Botschafter in den VAE ernannt.

TÜRKEI, SAUDI ARABIEN, ÄGYPTEN, VAE

Die Beziehungen zwischen den vier Ländern haben sich nach den Aufständen des Arabischen Frühlings 2011 verschlechtert. Damals unterstützte die Türkei Kräfte, die arabische Autokraten zu schaffen machten. Die türkischen Beziehungen zu Saudi-Arabien verschlechterten sich 2018, als eine saudisches Kommandogruppe den saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Istanbuler Konsulat des Königreichs tötete. Der türkische Präsident Tayyip Erdogan beschuldigte "höchste Ebenen" der saudischen Regierung und damit Kronprinz Mohammed bin Salman, den Befehl dazu gegeben zu haben.

2021 startete die Türkei inmitten einer bis heute anhaltenden Wirtschaftskrise eine diplomatische Offensive, die zu Staatsbesuchen und Investitionsvereinbarungen für die türkischen Wirtschaft führte. Saudi-Arabien erklärte sich bereit, fünf Milliarden Dollar bei der türkischen Zentralbank zu hinterlegen.

Auch die Beziehungen zwischen Ägypten und der Türkei, die den von der ägyptischen Armee geführten Sturz von Präsident Mohamed Mursi im Jahr 2013 nicht guthieß, verbesserten sich. Im März besuchte der türkische Außenminister erstmals seit einem Jahrzehnt Kairo.

Die Auswirkungen besserer Beziehungen haben sich in Libyen gezeigt, wo die Türkei die Regierung unterstützt, Ägypten und die VAE indes deren Gegner. Die neue Lage haben es den kriegführenden libyschen Parteien leichter gemacht, sich an einen Waffenstillstand zu halten, sagen Diplomaten.

KATAR, VAE, ÄGYPTEN, SAUDI-ARABIEN

Ägypten, die VAE, Bahrain und Saudi-Arabien brachen 2017 ihre Beziehungen zu Katar wegen des Vorwurfs der Terror-Finanzierung ab. 2021 kam es dann unter Führung Saudi-Arabiens zur Wiederannäherung und dem Ende des Boykotts gegen Katar. Riad und Kairo haben Botschafter ernannt. Alle Länder außer Bahrain haben ihre Reise- und Handelsbeziehungen zu Katar wiederhergestellt.

Katar ist aber nicht glücklich mit der Annäherung an Assad. Es hat seinen Widerstand gegen die Initiative Saudi-Arabiens zwar aufgegeben, lehnt eine Normalisierung seiner eigenen Beziehungen zu Damaskus aber ab. Katar hat lange an der Seite der Aufständischen in Syrien gestanden, beherbergt auf seinem Gebiet US-Truppen und finanziert den einflussreichen Nachrichtensender Al Dschasira.

ISRAEL, VAE, BAHRAIN, MAROKKO, SUDAN

Die Beziehungen Israels zur arabischen Welt haben sich im Jahr 2020 dank des von den USA vermittelten "Abraham-Abkommen" erheblich ausgeweitet. Die VAE und Bahrain waren die ersten, die aufgrund der gegenseitigen Besorgnis über den Iran ihre Beziehungen zu Israel normalisierten, gefolgt von Marokko. Im Februar erklärten der Sudan und Israel, sie hätten ein Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen geschlossen. Saudi-Arabien hat stillschweigende Unterstützung für das Abraham-Abkommen signalisiert und erlaubt israelischen Fluggesellschaften die Nutzung seines Luftraums. Riad hält eine Normalisierung der Beziehungen aber nur für möglich, wenn die Palästinenser in ihrem Streben nach Eigenstaatlichkeit Fortschritte machen. 2022 haben zudem Israel und die Türkei ihre Beziehungen wieder hergestellt, die rund ein Jahrzehnt lang gespannt waren.

SYRIEN, ARABISCHE STAATEN, TÜRKEI

Arabische Staaten, die einst die Aufständischen in Syrien unterstützten, haben trotz der Einwände der USA ihre Beziehungen zur Assad-Regierung wieder hergestellt. Die VAE übernahmen die Führung, als ihr Außenminister 2021 Damaskus besuchte. Der Prozess beschleunigte sich nach dem schweren Erdbeben in der Türkei und Syrien im Februar. Das Beben löste eine Welle der arabischen Unterstützung aus, die nach der Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran weiter an Fahrt aufnahm. Nach dem Beben besuchten die Außenminister von Jordanien und Ägypten - beides Verbündete der USA - erstmals seit Kriegsbeginn Damaskus. Kurz darauf folgte ein Besuch des saudischen Außenministers.

Experten zufolge sind die Motive für die Annäherung unter anderem der Versuch, den Einfluss des Iran einzudämmen, der Assad bei der Rückeroberung des größten Teils Syriens geholfen hat. Die arabischen Staaten wollen auch, dass Assad Produktion und Schmuggel von Drogen aus Syrien in der Region bekämpft.

Auch die Türkei, die lange Zeit die syrischen Rebellen unterstützte, hat, ermutigt durch Russland, wieder Kontakt zu Assad aufgenommen. Assad hat aber jedes Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan abgelehnt, solange sich das türkische Militär nicht aus Nordsyrien zurückzieht.

(Bericht von Ralf Bode. Redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)