Reuters

Armenier erwarten Fluchtwelle nach Gewalt in Bergkarabach

25.09.2023
um 06:47 Uhr

Kornidsor/Stepanakert (Reuters) - Vier Tage nach dem Waffenstillstand in Bergkarabach flüchten zahlreiche armenische Bewohner des aserbaidschanischen Gebiets nach Armenien.

Die Führung der Armenier in Bergkarabach rechnet mit einem Exodus der zuletzt auf 120.000 Menschen bezifferten Bevölkerung. Die Regierung Armeniens erklärte am Sonntagabend, 1050 Menschen seien aus Bergkarabach in dem Land eingetroffen. An der armenischen Grenze waren Hunderte Flüchtlinge zu sehen, wie Reporter der Nachrichtenagentur Reuters berichteten. In der Grenzstadt Kornidsor trafen voll beladene Zivilfahrzeuge ein. In der Hauptstadt von Bergkarabach, Stepanakert, sahen Reuters-Reporter zahlreiche Autos, die sich auf den Weg über die Gebirgsstraße nach Armenien machten.

Die Armenier in der Region wollten nicht als Teil Aserbaidschans leben, sagte David Babajan, ein Berater der selbst ernannten Regierung von Bergkarabach, zu Reuters. "99,9 Prozent ziehen es vor, unser historisches Stammland zu verlassen." Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan sagte laut Nachrichtenagentur Tass, Armenien werde alle ethnischen Landsleute aus Bergkarabach aufnehmen. Die Wahrscheinlichkeit steige, dass sie sich auf den Weg machten.

Aserbaidschan hatte zugesagt, die Rechte der Armenier in Bergkarabach zu respektieren. Die Armenier befürchten jedoch Verfolgung. Die Regierung in Armenien bereitet sich bereits auf die Aufnahme von Zehntausenden Menschen aus Bergkarabach vor. So werden Hotels nahe der Grenze zur Verfügung gestellt.

Der Regierungsberater aus Bergkarabach sagte, unklar sei, wann sich die Bevölkerung auf den Weg nach Armenien mache. "Das Schicksal unseres armen Volkes wird als Schande für die gesamte zivilisierte Welt in die Geschichte eingehen. Diejenigen, die für unser Schicksal verantwortlich sind, werden sich eines Tages vor Gott für ihre Sünden verantworten müssen", so Babajan.

Der armenische Ministerpräsident betonte in einer Rede an die Nation: "Die Armenier in Bergkarabach sehen sich immer noch der Gefahr einer ethnischen Säuberung ausgesetzt". Es sei zwar humanitäre Hilfe in den vergangenen Tagen angekommen. Aber das ändere die Situation der Bevölkerung nicht, so Paschinjan. Ihr einziger Ausweg könnte die Flucht sein, sollten sich die Bedingungen nicht wirklich verbessern. "Die Regierung wird unsere Brüder und Schwestern aus Bergkarabach mit Liebe willkommen heißen."

ARMENIEN FORDERT UN-MISSION FÜR BERGKARABACH

In Bergkarabach leben überwiegend ethnische Armenier, die die Region im Südkaukasus mit Hilfe der armenischen Regierung drei Jahrzehnte lang weitgehend kontrollierten. Bergkarabach hatte sich nach dem Zerfall der Sowjetunion von Aserbaidschan losgesagt, was international aber nicht anerkannt ist. Aserbaidschan startete am Dienstag einen breit angelegten Militäreinsatz. Einen Tag später stimmten die Armenier in Bergkarabach notgedrungen einer Feuerpause zu. Bei dem aserbaidschanischen Einsatz sollen Hunderte Menschen getötet und verletzt worden sein, darunter auch Zivilisten. Die Armenier haben der Weltgemeinschaft angesichts der jüngsten Entwicklungen bereits zuvor Untätigkeit vorgeworfen.

Nun forderte Armenien eine UN-Mission für Bergkarabach. Die internationale Gemeinschaft solle alles für eine umgehende Entsendung von UN-Vertretern nach Bergkarabach tun, sagte der armenische Außenminister Ararat Mirsojan laut Protokoll in einer Rede vor den Vereinten Nationen (UN). Ziel sei es, vor Ort die Einhaltung der Menschenrechte, die humanitäre Versorgung und die Sicherheit der Bevölkerung zu überwachen. Der aserbaidschanische Außenminister, Jeyhun Bayramow, sagte, seine Regierung bemühe sich weiterhin um Wiedereingliederung und eine friedliche Koexistenz der Bevölkerungsgruppen.

Russland unterstützt traditionell Armenien, das sich von seinem Verbündeten aber wiederholt im Stich gelassen fühlte. Hinter Aserbaidschan steht die Türkei. Russland und das Internationale Rote Kreuz erklärten am Samstag, erste Hilfslieferungen seien auf dem Weg oder angekommen.

(Bericht von Felix Light und Guy Faulconbridge, geschrieben von Christian Krämer, Elke Ahlswede und Jörn Poltz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)