Reuters

UN warnen vor Hungersnot im Gazastreifen

17.11.2023
um 14:37 Uhr

- von Nidal al-Mughrabi und Ari Rabinovitch

Gaza/Jerusalem (Reuters) - Internationale Organisationen schlagen Alarm wegen einer immer prekäreren humanitären Lage im Gazastreifen.

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) warnte, dass die Zivilbevölkerung wegen Nahrungsmittelknappheit von Hunger bedroht sei. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärte, sie sei extrem besorgt wegen der Ausbreitung von Krankheiten. UN-Hilfslieferungen in den dicht besiedelten Küstenstreifen wurden am Freitag erneut ausgesetzt. Treibstoffknappheit und der Zusammenbruch der Kommunikationswege über Handy, Telefon und Internet wurden als Grund dafür genannt. Das israelische Militär setzte seinen nach dem Hamas-Überfall vor rund sechs Wochen begonnene Einsatz gegen die radikal-islamische Palästinenser-Organisation nach eigenen Angaben mit Kampfjets und Bodentruppen fort. Man sei kurz davor, die militärischen Strukturen der Hamas im Norden des Gazastreifen zu zerschlagen.

WFP-Direktorin Cindy McCain erklärte, eine Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser gebe es in Gaza praktisch nicht. Nur ein Bruchteil dessen, was benötigt werde, gelange in das Gebiet. Da der Winter schnell näher rücke, die Notunterkünfte unsicher und überfüllt seien und es an sauberem Wasser mangele, sei die Zivilbevölkerung von der unmittelbaren Gefahr des Verhungerns bedroht. Der WHO-Gesandte für die Palästinensischen Gebiete, Richard Peeperkorn, sagte, in dem dicht besiedelten Küstengebiet seien mehr als 70.000 Fälle akuter Atemwegsinfektionen und über 44.000 Fälle von Durchfall registriert worden. Die Zahlen seien deutlich höher als erwartet.

Etwa zwei Drittel der 2,3 Millionen Einwohner gelten inzwischen als obdachlos. Verlassen können sie den von Israel abgeriegelten Gazastreifen nicht. Lebensmittel, Trinkwasser und medizinische Versorgung werden knapp. Hilfslieferungen, die per Lkw über den Grenzübergang Rafah von Ägypten aus in das Gebiet gebracht werden sollen, ließen sich angesichts der Kommunikations- und Treibstofflage nicht mehr koordinieren, warnte ein Sprecher des Palästinenser-Hilfswerks der UN. "Wenn kein Treibstoff mehr reinkommt, werden Menschen sterben wegen des Mangels an Treibstoff."

ISRAEL GENEHMIGT TÄGLICH ZWEI TANKLASTER

Israel genehmigte wenig später nach Angaben eines Regierungsvertreters die tägliche Einfuhr von zwei Tanklastern. Dies solle dazu beitragen, den Bedarf der UN-Hilfsorganisationen zu decken. Die Entscheidung zur Erteilung der Genehmigungen sei auf Bitten der US-Regierung erfolgt. Zuletzt hatte Israel Treibstofflieferungen, die auch für den Betrieb von Notstromaggregaten benötigt werden, untersagt mit der Begründung, diese könnten an die Hamas gelangen. Ob die nun genehmigte Menge reicht oder zur Entspannung der humanitären Lage beiträgt, war nicht klar.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bekräftigte angesichts der zunehmenden Kritik an dem Militäreinsatz einmal mehr, dass sein Land alles zur Vermeidung von Opfern unter der Zivilbevölkerung tue. "Aber leider sind wir nicht erfolgreich", räumte er gegenüber dem US-Fernsehsender CBS News ein. Die Schuld daran gab Netanjahu der Hamas. Jeder Tod eines Zivilisten sei eine Tragödie. "Und es sollte keine geben, denn wir tun alles, was wir können, um die Zivilisten aus der Gefahrenzone zu bringen, während die Hamas alles tut, um sie dort zu halten."

Hamas-Kämpfer hatten am 7. Oktober nach israelischen Angaben bei einem Überfall bis zu 1200 Menschen getötet, die meisten davon Zivilisten, und etwa 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Seitdem greift das israelische Militär das dicht besiedelte Küstengebiet aus der Luft, zu Boden und vom Meer aus an mit dem erklärten Ziel, die Hamas zu zerstören. Nach palästinensischen Angaben wurden dabei bislang mindestens 11.500 Menschen getötet, darunter mehr als 4700 Kinder. Die Vereinten Nationen (UN) halten die Zahlen für verlässlich.

Der Militäreinsatz konzentrierte sich bislang vornehmlich auf den Norden des Gazastreifens rund um Gaza-Stadt, weil dort die wichtigsten Kommandozentralen der Hamas liegen sollen. Israel hat die Bevölkerung darum aufgerufen, sich in den Süden des schmalen Küstengebiets in Sicherheit zu begeben. Zugleich gibt es aber inzwischen Signale, dass das Militär seinen Einsatz auch dort ausweiten könnte: Die Bewohner von vier Städten im südlichen Gazastreifen wurden aufgefordert, die Orte zu verlassen.

Die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa meldete, bei einem israelischen Luftangriff in der Nähe des Grenzübergangs Rafah seien mehrere Palästinenser getötet und verletzt worden. Getroffen worden sei eine Gruppe Geflüchteter. Der arabische TV-Sender Al-Jazeera berichtete unter Berufung auf Insider, neun Menschen seien bei dem Angriff getötet worden. Reuters konnte die Angaben nicht überprüfen. Von Israel lag zunächst keine Stellungnahme vor.

Besonders dramatisch ist die Lage in den Krankenhäusern. Im Fokus steht vor allem die größte Klinik im Gazastreifen, das Al-Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt. Nach palästinensischen Angaben wurde es bereits zweimal von israelischen Soldaten gestürmt. Das Militär ist überzeugt, dass die Hamas unter der Klinik eine Kommandozentrale betreibt. Die Hamas weist dies zurück. Zur Untermauerung seiner Vorwürfe veröffentlichte das israelische Militär ein Video, auf dem der Eingang zu einem Tunnelschacht von Hamas-Kämpfern auf dem Gelände des Al-Schifa-Krankenhauses zu sehen sein soll. Auch ein mit Waffen beladenes Fahrzeug sei gefunden worden. Die Aufnahmen ließen sich nicht verifizieren.

(geschrieben von Christian Rüttger, redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)