Reuters

Israel ordnet weitere Evakuierungen an - Bewohner verzweifelt

04.12.2023
um 13:47 Uhr

- von Arafat Barbakh

Gaza (Reuters) - Israel treibt seine Offensive gegen die radikal-islamische Hamas voran.

Das Militär forderte die Bevölkerung am Montag über den Kurznachrichtendienst X auf, weitere Teile der Stadt Chan Junis im Süden des Gazastreifens zu räumen. "Die Ziele im nördlichen Abschnitt sind fast erreicht", sagte Brigadegeneral Hischam Ibrahim im israelischen Armee-Rundfunk. "Wir fangen an, die Bodenoffensive auf andere Teile des Streifens auszuweiten, mit einem Ziel: die Terrorgruppe Hamas zu stürzen."

Bewohner versuchten verzweifelt, sich in Sicherheit zu bringen. Das israelische Militär veröffentlichte eine Karte, auf der etwa ein Viertel des Stadtgebiets von Chan Junis zur sofortigen Evakuierung gelb markiert ausgewiesen war. Drei Pfeile wiesen nach Westen und Süden, um den Menschen anzuzeigen, sich weiter Richtung Mittelmeer oder zur ägyptischen Grenze zu begeben.

"WO SOLLEN WIR HIN?"

Bis zu 80 Prozent der 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen haben im Zuge der israelischen Militäroffensive und Bombardierungen ihre Häuser und Wohnungen aufgegeben. Ein großer Teil des Gazastreifens gleicht nur noch einer trostlosen Einöde. Viele Bewohner sind bereits aus anderen Teilen des schmalen Küstengebiets vertrieben worden, etwa Abu Mohammed. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters sagte er, es sei nun das dritte Mal, dass er zur Flucht gezwungen sei, seit er seine Unterkunft in Gaza-Stadt im Norden aufgegeben habe. In der vergangenen Nacht hätten israelische Panzer vom Osten und Norden aus geschossen, und im Westen vom Meer aus Kriegsschiffe. "Um uns herum Feuerringe, und das Haus bebte und war von den Explosionen in rotes Licht gehüllt." Bei Kindern und Erwachsenen habe Panik und Entsetzen geherrscht. "Warum haben sie uns aus unseren Häusern in Gaza-Stadt vertrieben, wenn sie doch vorhatten, uns hier zu töten?"

"Wir schliefen, als wir um fünf Uhr in der Früh spürten, wie alles zusammenbrach und alles auf den Kopf gestellt wurde", sagte Nesrine Abdelmoti, die inmitten beschädigter Möbel in einem Mietzimmer stand, in dem sie mit ihrer geschiedenen Tochter und einem zweijährigen Kind lebt. "Sie sagten (den Leuten), sie sollten vom Norden nach Chan Junis ziehen, da der Süden sicherer sei. Und jetzt haben sie Chan Junis bombardiert. Selbst Chan Junis ist jetzt nicht sicher, und selbst wenn wir nach Rafah (an der ägyptischen Grenze) ziehen, ist Rafah auch nicht sicher. Wohin sollen wir gehen?"

Nebenan wühlten sich Jungen mit bloßen Händen durch Gebäudetrümmer. Im Staub lag ein Stofftier. Aus Gemäuerresten eines in der Nacht getroffenen Hauses schlugen Flammen und grauer Rauch stieg auf.

Nach Angaben der örtlichen Behörden wurden inzwischen mehr als 15.500 Menschen in dem Küstengebiet getötet, Tausende weitere werden vermisst. Es wird befürchtet, dass sie unter Trümmern begraben liegen.

Der Krieg begann, nachdem Hamas-Kämpfer am 7. Oktober im Süden Israels ein Massaker angerichtet hatten: Sie töteten nach israelischen Angaben 1200 Menschen und nahmen etwa 240 Geiseln. Die israelischen Streitkräfte brachten die nördliche Hälfte des Gazastreifens weitgehend unter ihre Kontrolle, bevor Ende November eine einwöchige Waffenruhe begann, um einen Teil der Geiseln gegen palästinensische Gefangene auszutauschen und dringend benötigte Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu bringen. Als bis Freitag keine weitere Verlängerung der Feuerpause zustande kam, wurden die Kampfhandlungen wieder aufgenommen und Israels Militär stieß rasch weiter Richtung Süden vor.

MEHR RÜCKSICHT AUF ZIVILISTEN GEFORDERT

Erklärtes Kriegsziel ist die Vernichtung der Hamas. "Die Israelischen Verteidigungskräfte weiten ihren Bodeneinsatz gegen Hamas-Zentren im gesamten Gazastreifen weiter aus", sagte Israels Militärsprecher, Konteradmiral Daniel Hagari, in der Nacht zu Montag vor Journalisten in Tel Aviv. "Die Streitkräfte geraten von Angesicht zu Angesicht mit Terroristen und töten sie." Nach Angaben eines Regierungssprechers griff das Militär am Wochenende mehr als 400 Ziele an, darunter auch Chan Junis aus der Luft.

Die Bundesregierung forderte Israel auf, die Zivilbevölkerung möglichst zu schonen. Die humanitäre Not drohe sich zu verstärken, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Berlin. Im südlichen Gazastreifen hielten sich nunmehr 1,8 Millionen Menschen auf. "Daher ist es uns besonders wichtig, dass Israels Vorgehen diesem Umstand Rechnung trägt und ziviles Leid vermeidet", sagte der Sprecher. "Und es ist genauso wichtig, dass sich Israel an das humanitäre Völkerrecht hält." Die USA, Israels engster Verbündeter, hatte bereits zuvor dazu aufgerufen, mehr für den Schutz der Zivilbevölkerung im südlichen Teil des Gazastreifens zu tun als bei der Kampagne im Norden.

(geschrieben von Christian Rüttger, redigiert von Kerstin Dörr.; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)